Mal was ganz Schnelles,
gibt man dieses Gedicht einem schönen Wesen zu lesen,
so hat es - im Gedicht wird ja eine vergangene Parallelsituation geschildert -
die Möglichkeit, mit einem Lächeln bis hin zum Ende und einer Gegenbewegung
zum Gedicht-Du zu antworten. Es verweigert dieser neue Adressat nicht den Kuss.
Oder aber er/sie lächelt ohne explizite Abweisungsgesten zu produzieren.
Nebenbei gesagt, der Griff auf einen leicht archaisch-poetischen Code in Reim und Stilregister
„Früher“, sprach ich, „hat ein Dichter,
Gesetzt es fand der milde Richter,
Das Liedlein ebenfalls gelungen,
Einen Kuss sich ausbedungen.“
müsste in der Primärsituation durchaus so postmodern-ironisch lesbar sein,
dass eine Abwehrbewegung unnötig ist und ein Lächeln über geglückte, leicht parodistische
Sprachführung Geneigtheit und Heiterkeit und Levitation hervorruft.
greetse
ww
Und noch ein Nebenbei, hier in München gibt es eine Paul-Heyse-Unterführung (ein heute belächelter Dichter des 19. Jahrhunderts war er) und der gefällt mir mit seiner Codierung gerade sehr bis durchaus:
In der Literaturwissenschaft wird Heyse als epigonal und farblos angetan.
Offensichtlich aber - bei allem Verständnis - Wertungsfragen sind äußerst kompliziert:
Das Innovationskriterium als Maß für dichterische Leistung dürfte sich als Innovation des 20. Jahrhunderts
und seiner nun schon eher abgesunkenen Avantgarde-Ästhetik kaum mehr innovatorisch wirken.
Spätestens mit den Kriterien der Postmoderne ist sowohl eklektizistisches Dichten (man vergleiche etwa Ecos Kriminalroman der Rose oder Klings oder Grünbeins Lyrik) alles andere als obsolet.
Und Heyse stelzt sehr viel weniger kothurnenmäßig herum als man denkt.
Er generiert neben Hochnormpoesie schöne, humorige Texte,
mit komischer Fallhöhe: klassischer Sound, alltäglicher Inhalt:
Hier stoizistisches Ertragen von massivem Gewitterregen bis hin zum sintflutartigen Kathastrophenphänomen ...,am Ende sogar Überwindung von Endzeitstimmung durch den Clou: ein Herzsolo, unbeeindruckbar von der Katastrophe draußen.
Gesegnet ist der Tag mit Niederschlägen.
Kaum wurden Weg und Steg im Walde trocken
Und Heuchelsonne wollt´ hinaus mich locken,
Trieb rasch nach Haus mich ein Gewitterregen.
Nun, wie Gott will! Ich habe nichts dagegen,
Auch einen Tag im Zimmer zu verhocken,
Und fehlt ein dritter Mann nicht zum Tarocken,
So mag die Sintflut kommen meinetwegen.
Was soll der Mensch, der tagelang vergebens
Nach Sonne seufzte, andres auch beginnen,
Als mildern durch ein Spiel den Ernst des Lebens?
Was andres löst den Druck von seinen Sinnen
Und scheint ihm noch ein würd'ges Ziel des Strebens,
Als manchmal ein Herzsolo zu gewinnen?
[Heyse: GW Bd. 5, S. 278-279]
Hier nun der pragmatisch Hinweis, bei der Wahl zwischen einer kurzen Götterlieblingexistenz und einem langen Leben ohne göttliches Protegieren und Inspiration, mit Dankbarkeit auf eine mittlere poetische Existenz zu blicken. Finde ich nicht verschnarcht, eher witzig.
Wenn es wahr ist, jung schon müsse sterben,
Wen die Götter lieben, bin ich dankbar,
Daß sie nicht zum Liebling mich erkoren.
[Heyse: Bd. 5, S. 425]
Beste Grüße an Claudia