von Pyrrha » Di 4. Jun 2013, 02:12
Deine Skepsis als Schulmann, Prudenti, halte ich für sehr begründet, denn innerhalb des gegenwärtigen Systems ist wahrscheinlich wirklich nicht viel mehr möglich. Ich frage mich nur, ob es bei der Sache nicht irgendwo einen pädagogischen Fehlschluss gibt, wie weit man Sachen vereinfachen kann, ohne dass sie wegen fehlenden Hintergrundes oder zu wenig Übung wieder schwer werden. Die modernen Fremdsprachen, die wir in der Schule lernen, beherrschen wir allesamt besser als Latein, und auch Frau Merkel hat in der DDR besser Russisch - keine einfache Sprache! - gelernt, als der moderne Lateinschüler Latein kann. All das liegt mit Sicherheit daran, dass man in modernen Fremdsprachen selbständig formulieren muss, denn dadurch prägt sich Grammatik und Vokablen besser ein. Man sieht ja immer wieder, dass gerade die ältere Generation auch nach vielen Jahren in der Grammatik noch deutlich sicherer ist als heutige Schuler, eben weil man damals regelmäßig auf Latein formulieren musste. . Ich frage mich manchmal, ob man es den Schülern nicht unnötig schwer macht, indem man es ihnen an den falschen Stellen leicht macht.
Ich selber war übrigens ab dem Zeitpunkt merklich besser als meine LK-Kameraden, als ich mich im Internet im lateinischen Schreiben versucht habe - das können hier sicherlich mehrere nachvollziehen. Im Grundstudium hatte ich dann eine Freundin, die Latein studiert hat, und als sie die Fasten gelesen hat (die ich allerdings ein, zwei Jahre vorher mal auf lat. gelesen hatte), habe ich ihr mal die erste Seite so grob vorübersetzt, und sie war baff, wie ich das konnte – der Unterschied war mein Kontakt mit Lebendigem Latein und daraus hervorgehend halbwegs flüssige Lesefähigkeiten, und wenn ich den Inhalt verstehe, kann ich ihn auch zwar nicht sofort in geschliffenem Deutsch aber doch sinngemäß irgendwie wiedergeben, wie halt in anderen Fremdsprachen auch. Inzwischen ist es Jahre her, dass ich einen Text übersetzt habe, und wenn du mich fragst, wie ich „mens“ übersetze, schlage ich im Lexikon nach, nicht weil ich das Wort nicht verstehe, sondern weil ich es gut genug an sich verstehe, um mir die deutschen Entsprechungen nicht mehr dazu merken zu müssen; bei den grammatikalischen Fachbegriffen sieht es auch düster aus, aber das schöne ist ja, dass man die, genauso wie die Übersetzung komplizierter Vokabeln, nicht mehr braucht, wenn man einmal das Sprachgefühl entwickelt hat – nur soweit kommt es ja bei den meisten nie.
Dein Argument bezüglich der Problemlösefähigkeiten ist zwar unzweifelhaft wahr, nur halte ich es für gefährlich, Primär- und Metaziele des Lateinunterrichts zu vermischen. Zu dem Thema hat übrigens Aloisius Miraglia viel zu sagen: Seiner Meinung nach sind die preußischen Schulreformen mit ihrem Fokus auf formaler Bildung das Schlimmste, was dem Lateinunterricht passieren konnte, weil dadurch vor lauter Problemlösefähigkeiten, Logik und grammatikalischer Analyse das Hauptziel, nämlich Latein um der Sprache und Geistesgeschichte willen zu lehren, aus den Augen geraten sei. Ob es nun ganz so schlimm ist, wie er es sieht, kann man vielleicht bezweifeln, aber ganz Unrecht hat er nicht (ganz davon abgesehen, dass das Problemlösefach par Excellence eigentlich die Mathematik wäre, aber der Matheunterricht ist auch zu mechanisch auf Rechenwege ausgerichtet). Meiner Erfahrung nach erreicht man die Metaziele am besten, wenn man die Primärziele hoch setzt und im Übrigen nicht weiter darüber redet; ich weiß nicht, ob du das anders siehst.
Die Anregung, die Grammatik mathematisch aufzubauen, ist durchaus eine Überlegung wert, aber ich bin skeptisch, inwieweit das wirklich funktionieren kann, dazu ist natürliche Sprache und Grammatik oft einfach zu unregelmäßig und zu voll von – oft durchaus intendierten - Ambiguitäten, und was die mathematische Formulierung and Genauigkeit gewinnt, verliert sie an Reichhaltigkeit: Ich fürchte dass, wenn man die Idee weit genug verfolgen will, um Grammatik von der Sprache abstrahieren und komplett formalisieren zu können, so viele sprachlich-grammatische Nuancen verloren gehen, dass es mit der Sprache nicht mehr viel zu tun hat; wenn man sich allerdings nahe genug an der Sprache selber orientiert, um diese Nuancen zu erhalten, lernt man wahrscheinlich nicht viel Neues.
In der Mathematik gibt es zwar Möglichkeiten, die mathematische Sprache komplett zu formalisieren, so dass Aussagen und ganze Beweise vom Computer geprüft oder sogar generiert werden können, aber diese formale Sprache ist so kleinschrittig, dass sie für Menschen im Grunde nicht mehr lesbar ist, da wir in größeren Konzepten denken als Computer. Tatsächlich ist die formalisierte Version recht kurzer und einfacher Beweise oft um ein Vielfaches länger, und mit vielfach meine ich durchaus eine zweistellige Zahl.
P.S. Ich verstehe schon, dass du hier ein bisschen den Advocatus Diaboli spielst, und das ist auch dringend nötig, denn wenn nur RM und ich hier diskutierten, dann kämen ja die Argumente der Museumswächter gar nicht vor. Insofern bin ich für meinen Teil dir sehr dankbar, dass du diese undankbare Rolle übernimmst, und habe nach wie vor den allergrößten Respekt vor dir!
P.P.S. Entschuldige bitte den mal wieder viel zu langen Beitrag - Kürze ist leider nicht meine Stärke!
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?