Laptop hat geschrieben:[1] Virtus die Tüchtigkeit. Ich fühle so gut wie jeder andere wie unvollkommen dieses Wort dem lateinischen entspricht; aber Tugend entspricht eben gar nicht. Denn ungerechnet den altmodischen Eindruck, den das durch moralisirende Romane verbrauchte und zu Tode gejagte Wort auf manchen macht, ist eben an sich die moderne und christliche Tugend dadurch, daß sie zunächst in einem Seelenzustand und in der Schuldlosigkeit besteht, spezifisch verschieden von der virtus, welche durchaus Thatkraft und Wirksamkeit nach außen voraussetzt. Der thätigste und tapferste Held hat darum noch keine Tugend, und die frömmste Matrone darum noch keine virtus. Die blose Sittenreinheit heißt niemals virtus, wohl aber ist sie una de virtutibus, mithin auch aliqua virtus; denn virtutes χατ᾿ á¼Î¾Î¿Ï‡Î®Î½ sind allerdings alle Tugenden oder Vorzüge, aber die Tugend sezt der christliche Sinn in etwas ganz anderes als der römische die virtus. Auf ähnliche Weise zählen die Mädchen allerdings unter den Frauen, aber ein Mädchen kann niemals eine Frau heißen.
Laptop, ich finde diesen Abschnitt 19. Jahrhundert. Tugend ist einfach Tauglichkeit und die Tugenden sind Tauglichkeiten. Die Darstellung des Begriffes Tugend auf (inzwischen weitgehend aufgegebene Moralvorstellungen bez. der Geschlechtlichkeit) war immer eine unzulässige Verengung. Sittenreinheit, man muß heute aufpassen, bei positiver Verwendung des Wortes, sich keinen Rassismusvorwurf einzufangen, meinte ja damals vorzüglich die das Geschlechtsleben betreffenden Sitten, nicht die Ernährungs- und sonstigen Sitten eines Volkes äh- einer Population. Sittenreinheit - welch schönes Wort - ist in diesem Sinne nur eine Tugend, wenn auch eine hervorragende. Gomes Davila meinte einmal sinngemäß, daß der ungeheure Effort Preussens im 19. Jahrhundert allein auf der "Sittenstrenge" der diesen Staat tragenden landjunkerlichen OffiziersKaste beruhe, und damit meinte er genau jene oben zitierte sich auf das Geschlechtliche beziehende "Sittenreinheit", die später Fontane in L'adultera und Effi Briest so bloßstellte.
Es ist interessant zu sehen, wie gewisse Kreise in Deutschland, die tendentiell immer für ein "Niederreißen" "überkommener" "Moralvorstellungen" sind, beredt schweigen, wenn mekkaorientierte Einwanderer aufgrund "überholter Moralvorstellungen" die Sittenreinheit ihrer Töchter bis in den Tod (sog. "Ehren"- Mord) zu bewahren suchen. Also, wer gegen Preußen und Überholtes und überhaupt gegen Moralvorstellungen ist, müßte eigentlich auch auf Demonstrationen gegen Ehrenmord zu finden sein. Von hierher wird auch deutlich, warum Clipeus virtutis. Die Tugenden allgemein sind ein Schirm und Schild in den Fährnissen des Lebens. Tugenden sind ja nur Abstraktionen von Verhaltensweisen. Und gewissen Verhaltensweisen haben offensichtlich konfliktminderne bzw. vermeidende Wirkung.
Man hat heute leider den Eindruck, daß der Jugend bewußt der clipeus virtutis vorenthalten, ja daß sie vorsätzlich in konfliktgenerierende Situationen geschupst bzw. in konfliktproduzierenden Verhaltensweisen unterrichtet werden, unter dem Ziel, wer mit sich zu tun hat, bleibt unpolitisch und die Beseitigung bzw. Überwindung der in der Jugend injizierten Lügen kostet Geld, produziert mithin abschöpfbare Geldströme.