von Pyrrha » Mi 24. Jul 2013, 21:26
Ja, es hat wohl jede Disziplin ihre blinden Flecke, aber um den Vergleich der klassischen Philologie mit anderen Disziplinen ging es mir gar nicht. Ich hatte die Frage auch bewusst versucht, offen zu formulieren - es kann ja auch sein, dass die urspruengliche Aussage haltlos ist und besagte Doktorandin die deutsche Forschung nur nicht hinreichend wahrnimmt. Andererseits muessen wir natuerlich vorsichtig sein, nicht selber aus Unkenntnis voreilige Schluesse auf die Forschungsstandards in anderen Laendern zu ziehen - genau deswegen wollte ich wissen, wie das hier eingeschaetzt wird.
Die von dir erwaehnte Trotzreaktion auf die fortschreitende Marginalisierung des Faches haben wir ja schon in einem verwandten Diskussionsfaden behandelt, Prudenti, allerdings ist da ja kein rein deutsches Phaenomen, insofern ist mir nicht ganz klar, wie das mit dem internationalen Vergleich der Forschungsstaerke in der klassischen Philologie zusammenhaengt. Willst du vielleicht sagen, dass die Englaender moeglicherweise moderner sind, weil sie offener gegenueber literaturwissenschaftlichen Methoden aus den neuen Fremdsprachen sind, und die Deutschen sich diese Ansaetze mit ihrer Wagenburgmentalitaet verbauen?
P.S.: Wenn den Naturwissenschaftlern zum Vorwurf machst, dass sie glauben, die Wissenschaft fange mit Galilei an, dann muss ich sie da mal verteidigen, so ganz falsch ist das naemlich nicht. Im Vergleich zur antiken Naturwissenschaft, die ja eher ein Wettbewerb verschiedener Welterklaerungsmodelle war, ist das heutige Forschungsverstaendnis viel empirischer ausgerichtet. In den modernen Naturwissenschaften ist es nun einmal so, dass schwaechere Modelle sukzessive durch staerkere ersetzt werden, und insofern ist ein Grossteil, wenn nicht fast die gesamte antike Naturwissenschaft inzwischen obsolet, waehrend unsere heutige Physik in der Tat mehr oder weniger mit Galilei anfaengt (Ausnahmen sind natuerlich die Erdvermessung des Eratosthenes oder die Entdeckung des Archimedischen Prinzips), andere Naturwissenschaften auch noch spaeter.
Wenn ich hier obsolet sage, meine ich damit nicht, dass sie nicht nach wie vor von historischem Interesse ist, aber das Problem ist, dass sie eben nur noch von historischem Interesse ist - kein moderner Physiker wuerde versuchen, die Welt auf der Grundlage einer Vier-Elemente-Lehre zu erklaeren. Es ist naemlich nicht Aufgabe der Naturwissenschaftler, die Geschichte ihres Faches zu reflektieren oder Paradigmenwechsel zu studieren, das ist Sache der Wissenschaftshistoriker. Aus Interesse moegen sie das trotzdem tun, aber ihre eigentliche Aufgabe ist, die physische Welt zu beschreiben, und wenn sich da ein Erklaerungsmuster als falsch herausgestellt hat, dann ist es nur folgerichtig, es fallenzulassen, und das hat nichts mit Ignoranz zu tun, sondern entspricht schlicht und einfach ihrer Forschungsaufgabe.
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?