Salute, Laptop,
nach der Lektüre deiner Passage
Laptop hat geschrieben:Ein Begreifen ist aber mehr als nur das Verarbeiten einer tadellos gezimmerten semantischen Beschreibung. Wir verankern unsre muttersprachlichen Begriffe ganz konkret an erlebten Momenten, ansonsten sind Begriffe für uns nicht real, nicht mit der Realität verbunden. Willimox, wenn Dir pietas ein Begriff ist, kannst Du dann sagen, in welchen Alltagssituationen Du in letzter Zeit pietas erlebt oder selbst durchgeführt hast?
und den Ausführungen von Cometes scheint mir dein Argument nicht ganz einfach verstehbar und könnte vielleicht so beschrieben werden:
(1) Die Bedeutung eines muttersprachlichen Wortes lässt sich am besten erfassen, wenn man es in seinen Anwendungssituationen gehört und somit "lebendig" erlebt hat.
(2) Ein Wort oder Lexem ruft innerhalb derselben Sprache bei ihren Benutzern gemeinsame oder fast gemeinsame Vorstellungen auf. Diese sind denotativ und auch konnotativ in den Lexemen "mitgegeben".
(3) Fehlt diese Erlebnissituation, so ist die Bedeutung eines entsprechenden Wortes nicht zu fassen.
(4) Genau genommen geht es darum, dass die emotionale Dimension und überhaupt das Bewusstsein des Sprechers mit einem Wort und in der Sprache nur unzureichend erfasst wird und so prinzipiell unzugänglich ist, setzt man vollkommenes Verstehen als Ziel.
(5) Dieses Dilemma verschärft sich noch, wenn man es mit nicht muttersprachlichen, also fremdsprachlichen Begriffen zu tun hat.
(6) Eine semantische Analyse eines fremdsprachlichen Textes und der darin auftauchenden Frames und Scripte ist daher immer oder meistens vom Irrtum oder vom Nichtverstehen begleitet und bedroht, in noch größerem Umfang als bei muttersprachlichen Texten.
Frage 1:
Können wir erst einmal bei muttersprachlichen Ausdrücken bleiben?
Frage 2:
Solchen, die man ungefähr, also
mehr oder weniger, nach der "Daumenregel" richtig verstehen kann?
Frage 3:
laptop, wenn Dir "tadellos gezimmerte semantische Beschreibung" ein aus Begriffen aufgebauter Begriff ist (sit venia accumulationi) und ein Begriff des "Sitzes im Leben" bedarf, kannst Du dann sagen, in welchen Alltagssituationen Du in letzter Zeit eine "tadellos gezimmerte semantische Beschreibung" erlebt oder selbst durchgeführt hast?
Frage 4:
Gehen wir auf ein praktisches, durchaus komplexes Problem ein, den Stellenwert einer zentralen Zeugen-Aussage im Chemnitzprozess (Beschreibung weitgehend gestützt durch einen Artikel der SZ vom 23. August 2019):
Friseur Alaa S., 24 Jahre alt, 2015 aus Syrien geflohen, ist angeklagt, Daniel H. in einem Streit niedergestochen zu haben.
Keiner von Daniel H.s Freunden, die damals beim Stadtfest um ihn herumstanden, kann sich noch sicher daran erinnern, den angeklagten Alaa S. in dem Handgemenge zustechen gesehen zu haben. Andere Zeugen reden immer wieder von dem in den Irak geflohenen Farhad A., 22, dass dieser aggressiv gewesen sei und Daniel H. angegriffen habe. Nur ein einziger Zeuge sagt, er habe den Angeklagten Alaa S. beim Angriff auf Daniel H. gesehen: der Koch des Dönerrestaurants "Alanya".
Younis Al-N. ist Koch und Zeuge im Chemnitzprozess gegen Alaa S., der Koch ist 30, untersetzt und sehr nervös. Auf seine Aussage stützt sich der Staatsanwalt, auf ihn stützt sich auch das Gericht. Der Koch will damals, in jener Sommernacht, Schreie gehört haben. Es war schon drei Uhr nachts.
Gerade noch hatten Alaa S. und ein paar Kumpel bei ihm Döner gekauft, jetzt spurteten sie los, nach draußen. Dort lag Farhad A. auf dem Boden. Der Iraker Farhad A.- so die Aussagen seiner Freunde - hatte Daniel H. gefragt, ob er Kokain habe. Der aber habe nur gesagt: "Verpiss dich." Farhad A. griff den Mann an, der versetzte ihm einen Faustschlag.
Und der Koch will sich aus dem Fenster des Dönerladens gelehnt und gesehen haben, was weiter geschah.
Der Koch sagt: Alaa S. habe mit Farhad A. kurz geredet und sei dann auf Daniel H. losgegangen. Alaa S. habe den Deutschen Daniel H. mit der linken Hand am Hals gepackt und mit der Rechten auf ihn eingewirkt, mit Armbewegungen, wie man sie nur macht, wenn man mit dem Messer zusticht. So hat er das in drei Vernehmungen bei der Polizei gesagt.
Dann, im Dezember, hat er dem Ermittlungsrichter gesagt, er sei falsch verstanden worden. Von Stichen habe er nichts gesagt. Jetzt, vor Gericht, will er am liebsten gar nichts mehr sagen, weil er sich ja selbst widersprochen hat. Richterin Herberger droht ihm 500 Euro Ordnungsgeld an oder fünf Tage Ordnungshaft. Das Gericht will diesen Zeugen unbedingt haben. Sein Anwalt sagt, das könne der Mann nie und nimmer bezahlen. "Das Einzige, was Sie damit erreichen, ist, ihn zu drangsalieren", hält er dem Gericht vor. Die Richterin geht auf 300 Euro herunter.
Aber der Mann muss aussagen. Er kommt mit Personenschutz. Der Zeuge soll bedroht worden sein von Freunden von Alaa S., man habe ihm gesagt, er werde im Sarg in seine Heimat zurückkehren.
Der Koch hatte bei der Polizei auch gesagt, Farhad A. und Alaa S. seien weggelaufen und beide hätten blutige Hände gehabt. Der Zeuge sitzt jetzt im Gericht und sagt plötzlich, blutverschmierte Hände habe er nicht gesehen. Die Richterin fragt: "Haben Sie Blut an Farhad gesehen?" "Nein", sagt der Koch. "Und bei Alaa?" "Nein", sagt er wieder. Wie diese Aussage denn dann ins Protokoll der Polizei komme, fragt die Richterin. Er sei falsch übersetzt worden, sagt der Koch. Die Richterin liest ihm noch mal vor, was er da gesagt hat: dass Farhad und Alaa mit blutverschmierten Händen weggelaufen seien. "Das stimmt nicht", sagt der Koch.
Auch das mit dem Zustechen stimme nicht mehr. Er habe nicht gesehen, wie Alaa S. zugestochen habe. Der Zeuge ballt die Fäuste. Er habe nur so Boxbewegungen gemacht. "Es gab kein Stechen, nur Schlagen." "Welche Aussage ist jetzt die richtige?", fragt die Richterin. "Ich weiß es nicht mehr", sagt der Zeuge und zerbricht vor Anspannung fast den Stift zwischen seinen Fingern. Er sagt, er habe gar nicht viel gesehen, da seien so viele Menschen gewesen. "Was sollen wir von der Aussage halten?", fragt die Richterin. "Es kann sein, dass ich was gesagt habe, aber ich erinnere mich nicht mehr", sagt der Koch.
Das Gericht hält dennoch viel von dieser Aussage. So viel, dass es darauf sein Urteil aufbaut. Die Aussage des Kochs Younis Al-N. sei nicht untauglich, wie von der Verteidigung behauptet. "In den ersten Vernehmungen hat Al-N. die Täter klar benennen können", sagt Richterin Herberger. Seine widersprüchlichen Aussagen vor Gericht führt sie auf die Bedrohungen zurück. Er sei verunsichert gewesen und habe sich deswegen auf Sprachschwierigkeiten zurückgezogen. Dass es sich um eine Falschaussage handeln könnte, glaubt sie nicht. Auch "aufgrund seiner intellektuellen Begabung". Was wohl bedeutet: So etwas könne sich der schlichte Mann nicht ausdenken.
4a)
Ist diese komplexe Aussagesituation dazu geeignet, die ersten Ausführungen von Younis für belastbar und wahr zu halten?
4b)
Ist dieser Aussagenkomplex so beschaffen, dass er - versteht man ihn richtig - begründeten Zweifel an der Schuld des Angeklagten erlaubt?
4c)
Falls man - etwa als Geschworener - für begründeten Zweifel stimmt: Ist hierbei das Verstehen der Sätze in dem Aussagenkomplex beeinträchtigt? Oder lässt sich erkennen, dass eben die gewisse Widersprüchlichkeit der Aussagen ihren Wahrheitswert beeinträchtigt (hat)?
4d)
Was besagt das über den Einfluss situativ fundierter Begriffsgebräuche auf richtiges oder unrichtiges Verstehen?
4e)
Ist recht deutlich geworden, dass man Begriffe in einem ganz erheblichen Ausmaß verstehen muss, will man sie in Alltagssituationen und strittigen Fällen gebrauchen?
4f)
Darf man - will man Gerechtigkeit - eine Gerichtsbarkeit auf der Basis sprachlicher Aussagen überhaupt praktizieren, da doch sprachliche Aussagen prinzipiell nicht bis zum letzten ausdeutbar sind?
Numerativ-linguistischer Overkill? Ödes Gedöns? In der Hoffnung, dass diese Fragen nicht als inquisitorisch verstanden werden
greetse
Biliibaldus