Potentialis

Korrektur und Hilfestellungen bei Übersetzungen für die Schule und das Leben sowie deutsch-lateinische Übersetzungen für Nichtlateiner

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Potentialis

Beitragvon marcus03 » Mo 4. Apr 2022, 06:56

Wie übersetze ich:

Falls du das nicht gemacht haben solltest, wirst du wohl bestraft werden. ?

Si hoc non feceris, puniaris.

Problem: Wie kann man hier den Potentialis der Gegenwart von dem der Vergangenheit unterscheiden?
Oder kann man hier faceres als Potentialis der Vergangenheit verwenden, was mir irgendwie widerstrebt. :?

Ich bin durch diesen Satz auf dieses Problem gestoßen:
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Re: Potentialis

Beitragvon mystica » Mo 4. Apr 2022, 09:48

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Re: Potentialis

Beitragvon marcus03 » Mo 4. Apr 2022, 11:46

mystica hat geschrieben: punireris.

= Irrealis der Gegenwart
Das ist ein anderer Fall, mea "conivetrix" optima" ;-)
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Re: Potentialis

Beitragvon Tiberis » Mo 4. Apr 2022, 11:56

marcus03 hat geschrieben:Falls du das nicht gemacht haben solltest, wirst du wohl bestraft werden.

Das ist ja schon im Deutschen nicht gerade verständlich. Wozu diese komplizierte Formulierung? Es reicht doch zu schreiben: Falls du das nicht gemacht hast...
So auch im Lat.: si id non fecisti, puniaris. Aber natürlich geht auch feceris, das man im Nebensatz ohne weiteres als vorzeitig verstehen würde.
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Re: Potentialis

Beitragvon ille ego qui » Mo 4. Apr 2022, 12:29

Salvete,

Marcus03 hat die Schul-Übersetzung genutzt, um zu zeigen, dass hier im Nebensatz ein Potentialis "gewollt" ist. Und die Frage ist ja berechtigt, da zumindest in etwas kleineren Grammatiken diese vermeintliche (?) "Lücke" im System oft umschifft wird.

Im neuen Menge (den ich gerade nicht zur Hand habe), heißt es in etwa, dass ein Konjunktiv Perfekt im Konditionalsatz nicht eigentlich zeitliche, sondern eher aspektuelle Bedeutung habe.
Schlecht fährt man damit aber wahrscheinlich trotzdem nicht.

Dennoch wäre es schön, wenn wir hier ein Beispiel finden könnten, dass Marcus' Wunsch eindeutig entspricht.

Es wäre mal eine Statistik über Potentialis in der Protasis vs. Apodosis interessant - auch bzgl. der Frage, ob hier eine starke Tendenz zur Einheitlichkeit besteht (Protasis und Apodosis beide im Pot.) oder nicht.
Schwieriger wäre dabei wohl noch die semantische Frage: Als Schüler und junger Student habe ich mich oft gefragt, was in einem Konditionalgefüge (Protasis=A, Apodosis=B), das komplett im Potentialis steht, denn wirklich als "potentiell" gedacht ist:
- dass A eintritt
- dass aus A B folgt
- beides
Zu einem ganz klaren Ergebnis bin ich dabei nie gekommen. (Mein Griechisch-Dozent meinte damals, das frage er sich auch oft :-D).

Valete.
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Re: Potentialis

Beitragvon marcus03 » Mo 4. Apr 2022, 14:29

Tiberis hat geschrieben:Das ist ja schon im Deutschen nicht gerade verständlich.

Ich will damit damit die Möglichkeit ausdrücken, deren Realisierung aber eher ausgeschlossen wird.
Ein reines Gedankenspiel.
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Re: Potentialis

Beitragvon iurisconsultus » Mo 4. Apr 2022, 16:29

marcus03 hat geschrieben:Si hoc non feceris, puniaris.

Problem: Wie kann man hier den Potentialis der Gegenwart von dem der Vergangenheit unterscheiden?


Si hoc non facias/feceris, puniaris = Wenn du das nicht tun solltest, wirst du wohl bestraft.

Ist nicht im potentialen Konditionalsatz in der Protasis ein Vergangenheitstempus entbehrlich, da ja logischerweise die Bestrafung dem Unterlassen zeitlich nachfolgt (Sollte zuerst A eintreten, dann wird [in weiterer Folge] wohl auch B eintreten, beides ist aber ungewiss; also folgende mögliche Ausgänge { }, A und B, A ohne B, nicht aber B ohne A). :?
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Re: Potentialis

Beitragvon Sapientius » Mo 4. Apr 2022, 20:09

beides ist aber ungewiss


Aber nicht beides zugleich; entweder A oder B kann ungewiss sein: andernfalls ist es kein Konditionalsatz.
Bei diesem ist die Kombination wf ausgeschlossen, aber ww, fw, ff sind möglich.

"Wenn jemand gegen die Rechtsordnung verstößt, wird er wohl bestraft"; potential kann hier nur die Apodosis sein: ob Bestrafung erfolgt, ist ungewiss. Wenn sie nicht erfolgt, nennt man das Konzessivsatz:
"Obwohl er ... verstieß, wurde er nicht bestraft"; eine Ausnahme, sagen wir.
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Re: Potentialis

Beitragvon ille ego qui » Mo 4. Apr 2022, 22:07

Es ist durchaus denkbar, dass man sagen möchte:

Falls A, dann wahrscheinlich/möglicherweise B.

Das hat mit konzessiv erst einmal noch nicht so viel zu tun.
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Re: Potentialis

Beitragvon Sapientius » Di 5. Apr 2022, 07:36

Das hat mit konzessiv erst einmal noch nicht so viel zu tun.


Das kann man genauer sagen: "Falls A,..." gilt für den allgemeinen, unbestimmten Fall, und "Obwohl A, trotzdem nicht B" gilt für den speziellen Fall, die Anwendung des Allgemeinen auf das Besondere.
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Re: Potentialis

Beitragvon iurisconsultus » Di 5. Apr 2022, 11:25

ille ego qui hat geschrieben:Falls A, dann wahrscheinlich/möglicherweise B.

Genau meine Rede (siehe oben). :)

Sapientius hat geschrieben:Aber nicht beides zugleich; entweder A oder B kann ungewiss sein: andernfalls ist es kein Konditionalsatz.

Warum sollte es nicht möglich sein in einem konditionalen Satzgefüge sowohl die Bedingung wie auch die Folgerung als nur möglich, als in Gedanken vorgestellt, auszudrücken, wenn ich den Wirklichkeitsgehalt meiner Aussage entweder aufgrund unzureichenden Wissens oder aus taktvoller Zurückhaltung nicht voll garantieren kann oder will?

marcus03 hat geschrieben:Problem: Wie kann man hier den Potentialis der Gegenwart von dem der Vergangenheit unterscheiden?

Iurisconsultus hat geschrieben:Ist nicht im potentialen Konditionalsatz in der Protasis ein Vergangenheitstempus entbehrlich, da ja logischerweise die Bestrafung dem Unterlassen zeitlich nachfolgt?

Würde sich dazu vielleicht noch jemand äußern? Das würde mich sehr freuen!
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Re: Potentialis

Beitragvon ille ego qui » Di 5. Apr 2022, 13:35

Salve iterum, amice!

Ist nicht im potentialen Konditionalsatz in der Protasis ein Vergangenheitstempus entbehrlich, da ja logischerweise die Bestrafung dem Unterlassen zeitlich nachfolgt?

Würde sich dazu vielleicht noch jemand äußern? Das würde mich sehr freuen!


Vielleicht wird das wirklich so empfunden.
100 % entbehrlich scheint es mir nicht, u.a. weil man ja vielleicht die Protasis nicht nur in Relation zur Apodosis zeitlich einordnen will, sondern auch zur Gegenwart des Sprechens.
Vielleicht kann man auch Beispiele konstruieren, wo die Bedingung nachzeitig ist.

Dennoch ist ja nicht jede "Lücke im System" immer zu 100 % (!) sinnvoll. Daher könnte ich mir schon vorstellen, dass du recht hast. Quis scit ...

:-)
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Re: Potentialis

Beitragvon iurisconsultus » Di 5. Apr 2022, 15:11

Danke für deine Einschätzung! :)
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Re: Potentialis

Beitragvon iurisconsultus » Di 5. Apr 2022, 15:52

Ich habe einmal in den Burkard/Schauer, Lehrbuch, 5. Auflage § 561 geblickt. Für die von marcus vorgelegten Fragen sind folgende Stellen interessant:
Der Potentialis im Kondizionalsatz hat ungefähr dieselben Funktionen wie der Potentialis im Hauptsatz. Der Konjunktiv Perfekt ist seltener als der Konjunktiv Präsens und steht v. a. aus Gründen des Aspekts.
Was auch immer das Unterstrichene heißen mag, weiß bestimmt ille! :)
Si a corona relictus sim (Perfekt zum Ausdruck des Resultates, der Vorzeitigkeit), non queam dicere (Brut. 192).

Im Potentialis stehen auch Sätze, die eine Handlung ausdrücken, die zwar als in der Vorstellung möglich, in der Realität aber als kaum realisierbar erscheint.
Si hanc viam asperam atque arduam esse negem, mentiar (Hier könnte wohl kaum der Indefinitus stehen, der Irrealis wäre zu stark, da das Leugnen immerhin vorstellbar ist.) (Wenn ich leugnen würde, dass dieser Weg steinig und steil ist, würde ich lügen.) (Sest. 100)

Selten steht im Kondizionalsatz das Futur II zur Bezeichnung der Vorzeitigkeit.
Ego me caecum esse confitear, si hoc dixero (Planc. 6).

:stretch:
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Re: Potentialis

Beitragvon Sapientius » Mi 6. Apr 2022, 07:27

iurisconsultus hat geschrieben:
Si a corona relictus sim (Perfekt zum Ausdruck des Resultates, der Vorzeitigkeit), non queam dicere (Brut. 192).


Si leitet hier keinen Konditionalsatz ein, sondern einen Fragesatz, eine abh. Satzfrage.
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