Katzen, Mäuse, Studierte - Futter für Philogelos

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Re: Katzen, Mäuse, Studierte - Futter für Philogelos

Beitragvon cometes » Mi 3. Mär 2021, 14:06

Die allgemeinste lebensweltliche Erfahrung in dem Kontext ist aber doch die, dass Vögel gewöhnlich fliegen können und auf diese Weise flüchten, nähert man sich ihnen als ὀρνῑθοθήρας. Ein uraltes Spiel, Papagenos Wurzeln liegen in der Steinzeit. Wie also verfällt der Eierkopf, Wirr- und Irrdenker, der er mehr ist als Tollpatsch, auf die Idee, dass ausgerechnet diese aphrodisischen Twitterer ihm wie reifes Obst in den Schoß fallen, rüttelt er am Bäumchen, statt davonzufliegen?

Vielleicht erhellt Nr. 125 der Sammlung die eher auf Mehrdeutigkeit als marktvermitteltem Wissen beruhende Pointe:

Einem Abderiten war sein Spätzchen (Lieblingsvogel - στρουθίον) gestorben. Nach längerer Zeit sah er einen Vogel Strauß (στρουθοκάμηλον) und sagte: „Wenn mein Spätzchen noch lebte, wäre es schon so groß".


Bezeichnet στρουθός, wie der Blick ins Wörterbuch lehrt, mitunter schon an sich Sperling und den Vogel Strauß (neben diversen Ableitungen), folgerte scholastische Illogik nach Art des Abderiten, dass die στρουθοι vor seiner Nase auch nur kleine, flugunfähige Strauße sind. List und Tücke der Äquivozität.
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Re: Katzen, Mäuse, Studierte - Futter für Philogelos

Beitragvon Willimox » Mi 3. Mär 2021, 14:53

Salve, Cometes,
hier diskutieren wir ja - für Mitleser sei es gesagt - über die Absurditätsspanne, die zum einen im Mäusefangwitz, zum anderen im Schüttelbaumspatzenfangwitz vorliegt. Mir schien die Inkorporierungstheorie absurder als die markttechnische Erklärung beim Spatz.

Die Polysemiekomik beim Wechsel von strouthos zu strouthokamelos ist eine feine Sache, allerdings wohl doch sui generis, insofern der Sperlingsfänger wohl kaum vorausgesetzt hat, dass da die Ministraussspatzen auf den Bäumen hocken, aber wie die Bodenstrausse nun mal sind, nicht fliegen können, sondern herunterplumpsen.
Aber was weiss man, wie die Abderiten in der landläufigen Meinung so .gestrickt sind.

Beim Lesen von 126 erinnerte ich mich an einen feinen Joke, allerdings ganz konzentriert auf gar nichts Absurdes:

Zwei alte Ehepaare treffen sich in einem ihrer Häuser zu einem gemeinsamen Abendessen und danach unterhalten sich die Ehemänner im Wohnzimmer; die Frauen sind in der Küche.

Einer der Männer sagt: "Ich war gestern in diesem Restaurant. Für zwölf Dollar kann man fünf Mahlzeiten essen - es ist unglaublich! Fantastisch! Das Essen war köstlich." Der andere Mann fragt: "Wie heißt das Restaurant?"
"Äh ... hmm ... der Name des Restaurants. Ich habe den Namen des Restaurants vergessen. Oh, warte. Was ist das für eine Blume, diese rote Blume? Sie riecht gut, sie hat Dornen dran ..."
Der andere Kerl sagt: "Du meinst 'Rose'?"
"Ja! Das ist sie! He, Rose, wie heißt denn das Restaurant, wo wir gestern waren?"
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Re: Katzen, Mäuse, Studierte - Futter für Philogelos

Beitragvon Willimox » Mi 3. Mär 2021, 15:28

Oh, je, jetzt ist da noch ein Joke mit zwei "Gschtudierten", einem Papst und einem Rabbi, Polysemie von Zeichen, soziokulturellen Hintergründen und dem Sieg des Naiven.

Vatikan, sechzehntes Jahrhundert. Einer der Kardinäle hat sich eine riesige Summe Geld von einem jüdischen Bankier geliehen. Und er kann es nicht zurückzahlen. Also geht er zum Papst und sagt: "Ich denke, Heiliger Vater, wir sollten alle Juden loswerden." Der Papst sagt: "Ich kann nicht alle Juden rauswerfen. Das kann ich einfach nicht tun." "Nun", sagt der Kardinal, "warum findest du nicht eine Ausrede. Du forderst den Rabbi zu einem Duell heraus, wer den wahreren Glauben hat."

Der Papst stimmt zu, also gehen Kirchenobere und der Kardinal zu der Gemeinde und reden mit ihnen. Die Juden mögen die Idee nicht, aber sie können nicht nein sagen. Aber einer der Juden gibt zu bedenken: "Wissen Sie, unser Rabbi ist sehr gelehrt, sein Hebräisch ist ausgezeichnet, aber sein Italienisch ist begrenzt und sein Latein ist nicht existent. Und bei allem Respekt für den Papst, ich kann nicht glauben, dass sein Hebräisch so gut ist, dass er in der Lage wäre, zu debattieren."

Also sagt der Kardinal: "Weißt du was? Anstatt eine Debatte mit Worten zu führen, können sie mit Symbolen debattieren, mit Zeichen." Also stimmen sie zu.

Der Tag kommt und die Kardinäle sind versammelt. Der Papst kommt herein, setzt sich auf seinen Thron. Der Rabbi kommt herein und trägt ein langes schwarzes Gewand. Er setzt sich unten hin. Sie nicken sich gegenseitig zu.

Und dann beginnt der Papst. Er hält drei Finger hoch. Der Rabbi schaut ihn kurz an und hält einen Finger hoch. Der Papst schwingt den Finger im Kreis über seinem Kopf. Der Rabbiner schaut ihn an und zeigt auf den Boden. Der Papst zieht ein Glas mit sakramentalem Wein und eine heilige Oblate heraus und hält sie hoch. Der Rabbi schaut ihn einen Moment an, steckt seine Hand in die Tasche, zieht einen Apfel heraus und hält ihn hoch.

Der Papst klatscht die Hände zusammen und sagt: "Das war's. Diese Juden sind zu schlau für mich. Sie müssen nicht gehen; sie können bleiben."

Die Juden gehen hinaus, sehr glücklich, und die Kardinäle laufen um den Papst herum und fragen: "Was ist passiert?"
"Nun, ich hielt das Zeichen der Dreifaltigkeit hoch - den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist - und der Rabbi hielt ein Zeichen hoch, dass es nur einen Gott gibt.
Ich drehte meinen Finger, um zu sagen, dass Gott überall ist, und er zeigte nach unten, um zu zeigen, dass Gott genau hier ist.
"Ich hielt das Sakrament, den Wein und die Oblate hoch, um zu zeigen, dass man in unserem Glauben durch Beichte und Kommunion von allen Sünden befreit werden kann.
Und er hielt einen Apfel hoch, um zu zeigen, dass man die Erbsünde nicht loswerden kann. Sie ist immer da. Sie sind einfach zu schlau."

Zurück in der Synagoge tanzen die Juden und feiern und sie gehen zum Rabbi und sagen:
"Was ist passiert?"
Der Rabbi sagt: "Kannst du dir diese Chuzpe vorstellen? Dieser Kerl hält drei Finger hoch, um zu sagen: 'Du hast drei Tage Zeit zu gehen', und ich gebe ihm halt den Finger.
Er dreht den Finger über seinen Kopf, um zu sagen: 'Ihr werdet nicht nur aus Rom, sondern aus ganz Italien weggehen', also zeige ich nach unten, um zu sagen, dass wir genau hier auf italienischer Erde bleiben. Und dann holt er aus irgendeinem Grund sein Mittagessen heraus, also hole ich meines heraus."
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Re: Katzen, Mäuse, Studierte - Futter für Philogelos

Beitragvon cometes » Mi 3. Mär 2021, 15:53

Nr. 125 muss ja ein Kompositum einsetzen, um die für die Pointe wichtige Differenz zwischen den Vogelarten sichtbar zu machen, das erledigte der Baum in Nr. 19 auf dem die gleichnamigen Laufvögel gewöhnlich nicht sitzen, sodass der Witz es bei der äquivoken Form στρουθούς (Sperlinge/Strauße) belassen könnte, deren unmittelbare Wirkung auf native speaker nur schwer nachzuvollziehen ist. Aber was weiß man.

Interviewer: How do you explain this 4 year gap on your résumé?
Applicant: That’s when I went to Yale ...
Interviewer: That’s impressive. You are hired.
Applicant: Thanks. I really need this yob.


Exkursorische Preisfrage: Is this dad joke racist and why?

Die markttechnische Erklärung für die Annahme der Flugunfähigkeit erschließt sich mir nur bedingt, insofern lässt sich der Grad von Absurdität nur schwer einordnen. Wir sind uns aber wohl einig, dass der Scholastikos nicht einfach ein Idiot ist, sondern eine verquere Überlegung angestellt hat, die seine seltsamen Handlungen motiviert und die Pointen generiert.
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Re: Katzen, Mäuse, Studierte - Futter für Philogelos

Beitragvon Willimox » Mi 3. Mär 2021, 16:59

Die markttechnische Erklärung beim Spatzbaumjäger fokussiert als Hintergrundmodell Spatzen in Käfigen oder als tote Viechlein, immer auf dem Markt, in beiden Fällen eben nicht so flügge, dass ihnen in "mente intellectuali" das Merkmal "fliegt weg" und "kann durch Schütteln nicht gefangen werden" zukommt. Auf dem Markt verkauft werden die Spatzen wohl nicht nur als wachtelartige Delikatesse, sondern auch als Zubringer erotischer Strahlkraft.

Insofern ist der markttechnische Wert samt der Modellvorstellung "nicht fliegend-" vielleicht soziokulturell gefestigt und mächtig. Und so ist denn der Spatzbaumjäger nicht so aberwitzig weltfremd und infantil wie der Bibliophile, der den Köder sich einverleibt . Er muss ja wissen, dass die Maus sich ihm nicht nähert, da er sie vorher gejagt hat und die Maus wohl nicht ganz doof ist hinsichtlich der bibliophile Gefahr. Und überhaupt gegenüber menschlichen Figuren, ob sie jetzt ködergefüllt sind oder nicht.

Kurzum: Auch ein magisch beleckter Studierter sollte wissen, dass die Attraktion eines Köders auf visuellen und olfaktorischen Reizen beruht und dass er diese Reize annulliert, wenn er den Köder verschluckt.

Bei dem Dad-Witz mit Yale/Jail bin ich nicht so sicher. Muss der Leser einen Latino oder einen Schwarzen interpolieren, der sich in der Orthographie/Phonographie nicht so leicht tut? Allein der Gag mit der Schriftlichkeit und der Mündlichkeit hebt wohl rassistische Arroganz bis zu einem gewissen Grad auf, wenn sie denn im Spiel ist.
.....
Schotten sind geizig, Professoren sind spinnert, Ostfriesen sind deppert, Blondinen auch, in meiner Jugendzeit habe ich als Witzstereotyp gelesen, dass Schwarze (damals "N.") habituell Hühner klauen. Ich musste damals lachen und tue es auch noch heute, wenn ich diesen Joke imaginiere:

Stockfinstere, totenstille Nacht. Auf einmal heftiges Hühnergegacker. Der Farmer nimmt sein Gewehr, geht zur Scheune, wo der Hühnerstall ist, reißt die Scheunentür auf, die Flinte in seinen Händen ruft er: "Wer zum Teufel ist da drin?"
Zögernde Bass-Stimme: "Bloß wir Hühner, Massah."
.........................
Exkursorische Preisfrage: Ist es egal, welchen Status im Folgenden der Witzeerzähler hat?

Bernie, ein alter Jude, der viele Jahre im Bekleidungsgeschäft verbracht hat, geht in den Ruhestand. Seine Freunde fragen ihn: "Was wirst du tun, wenn du in Rente gehst?" Er sagt: "Ich denke, ich werde in den New York Athletic Club eintreten." Sie sagen: "Bernie, bist du verrückt? Die lassen da nie einen Juden rein!" Und er sagt: "Nun, ich habe meine Wege. Ich glaube, ich kann da rein."

Und tatsächlich, nachdem Bernie sich zur Ruhe gesetzt hat, zieht er einen blauen Blazer mit goldenen Knöpfen an, ein Nadelstreifenhemd, eine rote Seidenkrawatte, khakifarbene Dockers und Bootsschuhe, und geht runter zum New York Athletic Club zum Vorstellungsgespräch. Er wird in einen prunkvollen Raum geführt und ein gut gekleideter eleganter Mann kommt heraus, um ihn zu interviewen. Der Mann setzt sich Bernie gegenüber und fragt: "Ihr Name, Sir?" Er sagt: "Ah, ja. Ich heiße Bernard Throckmorten." Der Interviewer schreibt das auf. "Und in welcher Branche sind Sie tätig, Sir?" Bernie sagt: "Nun, ja, ich bin jetzt im Ruhestand, aber ich hatte viele Jahre lang eine kleine Boutique-Werbeagentur in der Park Avenue." Der Interviewer schreibt das auf. "Sind Sie verheiratet, Sir? Haben Sie Kinder?" "Ja, meine Frau Mary arbeitet sehr viel für die Junior League. Ich habe zwei Kinder: Buffy und Chip. Sie werden dieses Jahr in Harvard bzw. Yale immatrikuliert."
Er sagt: "Ich verstehe, Sir. Und Ihre Religion?"
"Ah, ja, wir sind Gójim."
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Re: Katzen, Mäuse, Studierte - Futter für Philogelos

Beitragvon cometes » Mi 3. Mär 2021, 22:49

Dass der Kalmäuser Spatzen nur als potenzfördernde Kadaver oder flugunfähige Käfigware kennt, die, sieht er sie auf Bäumen wachsen, in ihm die Vorstellung befördern, man könne sie einfach abernten, klingt mir ein wenig nach marktvermittelter Naturwahrnehmung im Spätkapitalismus, wo Stadtkinder mit täglich acht Stunden Bildschirmzeit angeblich glauben, Kühe seien von Natur aus milkalila und gäben pro Zitze eine Geschmacksrichtung.
Gibt es für dieses Klischee vom depravierten Konsumenten beim Scholastikos weitere Beispiele? Oder ist das eine ganz und gar anachronistische Projektion, die mir dann doch aberwitziger erscheint als die Einverleibung des Köders. Was mich nebenbei zur Frage bringt, ob manche Witze nur überleben, weil ihre Pointen geschichtlich unbemerkt evolvieren, sodass im Abstand von zweitausend Jahren aus ganz verschiedenen Gründen gelacht wird, ohne dass am Text ein Jota sich änderte.

Zu Yale/jail:

In einer Gelotosphäre, die Chicano im Ohr hat und einen ehemaligen Präsidenten, der gegen die vorrangig als Drogendealer, Vergewaltiger und sonstige Kriminelle wahrgenommenen Sprecher eine Mauer errichten lassen wollte, fällt die Antwort wahrscheinlich etwas anders aus. Zur ethnischen Identifikationsleistung des j/y-Schibboleths siehe folgendes Video am Anfang: https://www.engvid.com/how-to-pronounce-j-y-in-english/

Außerdem gilt, MEP Sonneborn hat es unlängst zu spüren bekommen, dass man sich über sprachliche Gebrechen (es ist doch eines, oder?) von Minderheiten nicht amüsieren soll, selbst wenn deren Herkunftsland zur aufstrebenden Weltmacht zählt. Alan Posener dazu trocken: Da immer mehr Gruppen ihren Opferstatus entdecken, kann man eigentlich nur noch Witze über Juden machen.

Zu Bernie Throckmorton III:

Als classic (schon vor mindestens zehn Jahren von Fred Rubin unter dem Titel Old Jews Telling Jokes als solcher erzählt) kann den bei mittlerweile weichgespülter membership policy des NYAC, die nur noch auf wenigstens als Ambition vorweisbaren Erfolg als Distinktionsmerkmal setzt (The New York Athletic Club's members are diverse, accomplished, active and engaging, running the gamut from elite athletes to titans of industry to renowned artists to individuals with exactly those aspirations) wahrscheinlich fast jeder, der seine Neigung zum jüdischen Witz qua selbstironische Bewältigung von historischer Diskriminierung durch Humor bezeugen möchte, vortragen, ohne dass er die Pointe zur Entlarvung des ewigen Juden oder dgl. deformiert.
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Re: Katzen, Mäuse, Studierte - Futter für Philogelos

Beitragvon Willimox » Do 4. Mär 2021, 11:04

Salute, Cometes, mächtig anregend, was da zu lesen ist, gehe mit Frau zu Friseur, melde mich später, kurz geschoren und länger.
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Re: Katzen, Mäuse, Studierte - Futter für Philogelos

Beitragvon Willimox » Do 4. Mär 2021, 22:16

Zur Struktur einiger Philogelos-Facetiae:

(1) Das Spielfeld

Die Frage, ob und wie die Studikos-Jokes im Philogelos funktionieren, hat einen hermeneutischen Aspekt und einen der Komik. Und diese Aspekte überschneiden sich. Wir versuchen deutend-hermeneutisch den soziokulturellen Hintergrund aufzuhellen, in den die facetiae eingelagert sind. Und wir überlegen komikbedenkend, wie weit die studiko-typische Verkennung von Alltagswirklichkeit in einem Witz gehen darf, damit er noch glaubwürdig ist und Lachen erzeugt. Totaler Unsinn frustet eher.

Mit anderen Worten: Der Hermeneut sucht nach tradierten, zu antiker Zeit normalen Verhaltensmustern, die der Studikos abwählt oder nicht auf der Pfanne hat. Und er sucht nach solchen Verhaltensmustern ano(r)maler Art, die nun beim Studikos die Oberhand gewonnen haben. Und umgekehrt fragt der Komiktheoretiker, wieviel Abstriche von der Normalität man machen darf, damit der Witz nicht ins total Unberechenbare und Nichtssagende abdriftet.

(2) Erklärungsmuster

Betrachten wir drei Witze.

8. Ein Kalmäuser/Studierter wollte eine Maus fangen, die andauernd seine Bücher benagte: er biß in rohes Fleisch und setzte sich im Dunkeln hin.

19. Ein Kalmäuser/Studierter sah auf einem Baum viele Sperlinge Bitzen. Er schüttelte den Baum und hielt seine Schürze unter, um die Sperlinge aufzufangen.

125. Einem Abderiten war sein Spätzchen (Lieblingsvogel) gestorben. Nach längerer Zeit sah er einen Vogel Strauß und sagte: „Wenn mein Spätzchen noch lebte, wäre es schon so groß".


Der Mausewitz (8) läuft über eine mehr oder weniger irre Fangaktion: Die Maus soll angelockt werden. Der Studiker beißt in ein Stück Fleisch oder verschluckt es, das wird nicht klar. Er sitzt im Dunklen. Dawe in seiner Teubnerausgabe meint, da fehlt einfach ein Satz im Text. Und ohne den ist der unvollständige Witz eben kein Witz. Thierfelder vermutet, dass hier vielleicht eine Katze imitiert werden soll. Denkt man diesen Gedanken weiter, geht es entweder um Abschreckung der Maus oder gar um ihr echtes Verzehren durch den Studikus. Cometes verweist darauf, dass der antike Standardmausefänger aber das Wiesel war/ist. Daher ...

Geht man von diesen Thesen nicht allzuweit weg, kommt man natürlich wieder schon leicht ins Schlingern. Hat der Studikos das Fleisch ins Spiel gebracht und will ein lohnenderes Mahl für die Maus auslegen als es Bücher sind? Will er die Maus, wenn sie zum Fleisch kommt und nicht zu den Büchern haschen? Warum sollte das Fleisch, sollte es verschluckt werden, die Maus anziehen? Sollte es nicht verschluckt werden und seinen olfaktorischen Reiz ausströmen, wird dann nicht auf jeden Fall der Jäger trotz Dunkelheit wahrgenommen und als Bedrohung erlebt, die es zu vermeiden gilt?

Ist das Denken des Studikos derartig von allerlei Jagdgeschichten infiziert, dass er einfach nur weiß, dass Köder Tiere anlocken und dann gefangen und getötet werden können, egal wie viel Gefahr im Umfeld für die Maus lauert? Ist er von einer Art magisches Denken infiziert, das die Gleichung Köder heißt Beute ohne Randbedingungen absolut setzt und damit das eigentliche Narrativ heftig verfehlt??

Je absurder die Abweichung von der Normallogik, desto mehr muss der Hermeneut liefern, um den Witz zu retten. Hier ist es der Verweis auf ähnlich absurde Scholastikos-Handlungen außerhalb des Scripts „Mausejagd“. Eine intratextuell-intertextuelle Methode innerhalb des Philogelos, aber doch in den unterschiedlichen Witzsparten Studikos und Abderit....

Witz 19 führt einen Studikos vor, der Spatzen von einem Baum zu schütteln versucht. Witz 125 führt einen Spatz ein, der – wohl jung – gestorben ist und daher – so der Abderit nicht mehr ein Strauß werden konnte. Referenz dieser Einschätzung ist die Äquivokation und Polysemie von „strouthos“, ein Lexem, das sowohl den „Spatz“ als auch den „Strauß“ bezeichnen kann, allerdings vereindeutigt wird, wenn man das Lexem „strouthokamelos“ verwendet. Liegt im Bibliothekswitz irgendeine Referenz auf Polysemie vor?

Soziokulturelle Erwägungen lauten etwa, dass man Spatzen in der Antike in Käfigen hielt, dass sie auf dem Markt angeboten wurden (sei es lebendig oder tot) und dass sie vielleicht mit einer aphrodisiakischen Wirkung (Stephanie West) beschenkt waren. Diese Gefangensein- und Totsein-Existenz (sit venia verbo) mag dem Studikos von 19 vorschweben, weshalb dann seine Fangaktion immer noch recht verrückt, aber vielleicht nicht ganz so verrückt ist wie die Mäuseaktion von 8. Nun das ist ein weites, diskutables Feld.

Interessant ist die doch sehr starke Verlachtendenz der Studikoswitze: der weltabgewandte, praxisferne Studikos verfehlt die Wirklichkeit. Es gehört zur Reputation und überhaupt zum menschlichen Glück, einer anstehenden Situation mächtig zu sein oder sich als mächtig zu erweisen. Nun ist der Studikos eben nicht situationsmächtig und kann so vom Hörer verlacht werden, der ja offensichtlich über die besseren Voraussetzungen verfügt..

(3) Komplexere Strukturen, das Trickster-Schema

Die leicht oder schwer absurden Aktionen und Überlegungen können aber sehr wohl in den Raum von Tricks und Trickstern eingeführt werden. Die Ennius-Nasica-Episode bei Cicero führt einfach eine absurde Folgerung vor („Meiner Dienerin glaubst Du mehr, dass ich nicht da bin, als mir selber und meiner Stimme?"). Eine Folgerungsfrage, die den Dichter überführt und leicht düpiert, der sich seinerzeit verleugnen ließ.

Cicero (De oratore 2.275–6),

Ex quo genere est etiam non videri intellegere quod intellegas . . .
ut illud Nasicae, qui cum ad poetam Ennium venisset eique ab
ostio quaerenti Ennium ancilla dixisset domi non esse,

Nasica sensit illam domini iussu dixisse et illum intus esse. paucis post
diebus cum ad Nasicam venisset Ennius et eum ad ianuam quaereret,
exclamat Nasica domi non esse,

tum Ennius ‘quid? ego non
cognosco vocem’ inquit ‘tuam?’

Hic Nasica, ‘homo es impudens:
ego cum te quaererem ancillae tuae credidi te domi non esse, tu
mihi non credis ipsi?’


Ein weiterer derartiger Witz läuft darauf hinaus, etwas scheinbar nicht zu verstehen, wenn
man es aber wirklich wirklich versteht, wie im Fall von Nasica.


Nasica hatte den Dichter Ennius aufgesucht und als er an der Haustür nach ihm fragte
und das Dienstmädchen sagte, er sei nicht zu Hause, erkannte Nasica, dass sie
im Auftrag ihres Herrn sprach und dass er tatsächlich da war.

Ein paar Tage später, als Ennius Nasica aufsuchte und am Eingang nach ihm fragte
rief Nasica, dass er nicht zu Hause sei.

'Was?' sagte Ennius, 'Kenne ich deine Stimme nicht?'
'Du bist ziemlich schamlos', erwiderte Nasica. 'Als ich nach dir fragte,
glaubte ich deiner Magd, als sie sagte
du seist nicht zu Hause; und DU glaubst du mir nicht, wenn ich
dir das Gleiche persönlich sage?'


193 nimmt diese Struktur auf, dünnt sie aber sehr aus. Ein Griesgram wird von jemandem besucht. Der Besuchte ruft: „Ich bin nicht da!“. Der Besucher reagiert mit dem Vorwurf der Lüge. Der „Lügner“ antwortet launig oder verdrossen: „Du Mistkerl, wenn dir das mein Sklave gesagt gesagt hätte, hättest du ihm geglaubt. Ich erscheine dir also nicht glaubwürdiger als jener?“

193. Einen Grobian/Griesgram wollte jemand besuchen. (Auf Klopfen und Rufen) antwortete er: „Ich bin nicht da." Als der andere lachte und sagte: „Das ist nicht wahr. Ich höre ja deine Stimme", sagte jener: „0 du gemeiner Kerl! Wenn es mein Diener gesagt hätte, hättest du es ihm geglaubt. Ich aber komme dir nicht glaubwürdiger vor als er?"


Hier werden Täuschungsmomente eingesetzt, aber sofort als Spiel offenbar gemacht oder aber aus Griesgrämigkeit zur Abweisung verwendet. Die Akteure sind weitgehend Herren der Situation. Nur bedingt ist hier der Besucher der Düpierte. Und nur bedingt hat sich der Griesgram in irgendwelchen Flausereien eingesponnen.

(4) Ausgrenzungs- und Verlachgrade

Yale/Jail
Interviewer: How do you explain this 4 year gap on your résumé?
Applicant: That’s when I went to Yale ...
Interviewer: That’s impressive. You are hired.
Applicant: Thanks. I really need this yob.


Der Witz mit Jail und Yale funktioniert über die phonetischen Unterschiede von englisch „y“ und „j“. Allerdings decouvriert sich der Bewerber hier ohne Täuschungsabsicht selber. Der „Hire-Man“ hat offensichtlich nicht genau hingehört und muss nun bei größerer Informationsdichte seine Akzeptanz des Bewerbers zurücknehmen. Oder: Nur der Rezipient des Witzes ist sich über die Gefängnisvergangenheit klar geworden und belächelt den Personalchef wie den hochsprachenfernen Bewerber.

Vielleicht aber hat der Rezipient auch nur das Vergnügen erfahren, eine phonetische Indizienkette nach einiger Zeit zu durchschauen. Ein Kipp-Phänomen, das den Scharfsinn spontan herausfordert und einen Bonus für den bereit hält, der die Skripte und ihre Inkongruenz durchschaut. Mag gut sein, dass die heilige, biologischeEvolution hier sowohl den Witzeerzähler wie den Witzversteher als einen attraktiven Partner in Geschäft, Beruf, Freundschaft, Liebe markiert und aufleuchten lässt, natürlich nur in einem Ersteindruck, den man ja dann überprüfen kann. Mit scheint, dass die Philogelos-Witze nur sehr selten so gebaut sind, dass sie ohne die Schenkelpatsch- und Hammerkomik auskommen. Aber das könnte man am Einzelfall überprüfen.

Gojim

Bernie, ein alter Jude, der viele Jahre im Bekleidungsgeschäft verbracht hat, geht in den Ruhestand. Seine Freunde fragen ihn: "Was wirst du tun, wenn du in Rente gehst?" Er sagt: "Ich denke, ich werde in den New York Athletic Club eintreten." Sie sagen: "Bernie, bist du verrückt? Die lassen da nie einen Juden rein!" Und er sagt: "Nun, ich habe meine Wege. Ich glaube, ich kann da rein."

Und tatsächlich, nachdem Bernie sich zur Ruhe gesetzt hat, zieht er einen blauen Blazer mit goldenen Knöpfen an, ein Nadelstreifenhemd, eine rote Seidenkrawatte, khakifarbene Dockers und Bootsschuhe, und geht runter zum New York Athletic Club zum Vorstellungsgespräch. Er wird in einen prunkvollen Raum geführt und ein gut gekleideter eleganter Mann kommt heraus, um ihn zu interviewen. Der Mann setzt sich Bernie gegenüber und fragt: "Ihr Name, Sir?" Er sagt: "Ah, ja. Ich heiße Bernard Throckmorten." Der Interviewer schreibt das auf. "Und in welcher Branche sind Sie tätig, Sir?" Bernie sagt: "Nun, ja, ich bin jetzt im Ruhestand, aber ich hatte viele Jahre lang eine kleine Boutique-Werbeagentur in der Park Avenue." Der Interviewer schreibt das auf. "Sind Sie verheiratet, Sir? Haben Sie Kinder?" "Ja, meine Frau Mary arbeitet sehr viel für die Junior League. Ich habe zwei Kinder: Buffy und Chip. Sie werden dieses Jahr in Harvard bzw. Yale immatrikuliert."
Er sagt: "Ich verstehe, Sir. Und Ihre Religion?"
"Ah, ja, wir sind Gójim.
"

Fein ist auch der Gojim-Witz. Anders als der Yale-Mann versucht hier der Protagonist Eindruck zu schinden, indem er seine jüdische Herkunft verschleiert und immer neue Trümpfe im Gewinnspiel um die Clubaufnahme spielt, bis er sich selber als denjenigen decouvriert, den er zu verbergen sucht.

Gut möglich, dass hier sowohl die Belustigung über denjenigen um sich greift, der seine Herkunft verleugnet, die man nicht verachten sollte, will man nicht die Verachtung bei den Gentilen übernehmen. Andererseits ist die "Bestrafung" wohl nicht mit allzu großer Schadenfreude verbunden. Das Bestreben, Reputation in einer schicht/klassengestaffelten, wenig durchlässigen Gesellschaft zu gewinnen, ist alles andere als fremd.

Philogelos-Witze übernommen aus der Thierfelderausgabe:
Hierokles, , Philagrios, and Thierfelder, Andreas: Philogelos, der Lachfreund. Berlin, Boston: De Gruyter (A), 2014.

Bild
Thrasybulus (15) an einem Baum hängend und ihn schüttelnd, ganz in der Nähe der Wildenburg im Odenwald. Vage Verbindung mit "Parzival" und Vögeln.
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Re: Katzen, Mäuse, Studierte - Futter für Philogelos

Beitragvon Laptop » Mi 17. Mär 2021, 09:01

... was eigentlich nur zeigt, dass Du nichts Sinnvolles zu tun hast.

An dieser Stelle konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen. Wir haben glaube ich
alle nichts Sinnvolles zu tun. Sonst würden wir hier nicht über solche Dinge lesen ;-)
Insofern, immer easy bleiben ...
SI·CICERONEM·ÆMVLARIS·VERE·NON·VIVAS (get a life!) OBITER·DICTVM·BREVITAS·DELECTAT (keep it short and simple = kiss)
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Re: Katzen, Mäuse, Studierte - Futter für Philogelos

Beitragvon Willimox » Mi 17. Mär 2021, 20:52

Weil wir - da bin ich bei Laptop - beim nicht zu verkneifenden Lachen sind:

Bild

Es gibt eine Bild-Tradition der Madonna, die das Jesuskind kitzelt.
Ein Lachreiz, der hier sozusagen geheiligt wird - gewiss ein sanfter Reiz, aber immerhin.
Religiös gebilligt, wenn nicht sogar hochgewertet - trotz der vielfach beobachtbaren Lach- und Leibfeindlichkeit der Institution. Die Zärtlichkeit der Mutter mag hier mildernd wirken, aber immerhin ist das Lachen und das Kitzeln bis zu einem gewissen Grad geheiligt und nicht mehr mit allerlei Verdikten belegt.

Andrea Pisano, Virgin and Child, 1337,
Florenz, Museum Sana Maria del Fiore, Marmor und Majolica.
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