Gerundivum mit unpersönlicher Verwendung

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Gerundivum mit unpersönlicher Verwendung

Beitragvon Sinatra » Do 11. Feb 2021, 13:01

Ich schätze das Thema wurde schon merhmal von den Expeten erwähnt, trotzdem muß ich die Frage stellen:

Im vorzüglichen Lehrbuch von Catrein // Spal finden sich zwei Sätze ( S. 96/97, bei denen einmal das unpersönliche Gerundiv verwendet wird:

1)Civibus est a vobis rei publicae causa consulendum ( Ihr müßt für die Bürger des Staates wegen sorgen)

an andere Stelle heißt es persönlich

2) excitandus nobis erit ab inferis Gaius Marius ( wir müssen G.M aus der Unterwelt holen)

Kann man nicht bei
1) schreiben: Cives sunt a vobis rei publicae causa consulendi

und umgekehrt ebenso bei
2) Excitandum erit Gaium Marium nobis ab inferis?

Wenn nein, wo ist der Unterschied?

Viele Grüße
Sinatra
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Re: Gerundivum mit unpersönlicher Verwendung

Beitragvon Tiberis » Do 11. Feb 2021, 13:37

Sinatra hat geschrieben:Kann man nicht bei
1) schreiben: Cives sunt a vobis rei publicae causa consulendi

und umgekehrt ebenso bei
2) Excitandum erit Gaium Marium nobis ab inferis?


beides geht nicht, denn
1) die "persönliche" Verwendung des Gerundivs ist nur bei transitiven Verben möglich. "consulere" kann zwar auch transitiv sein, hat aber dann die Bedeutung "um Rat fragen" .
vobis cives consulendi sunt = ihr müsst die Bürger um Rat fragen.
(außerdem nicht: a vobis , sondern vobis (dat. auct.))
consulere + Dativ (sorgen für) ist jedoch intransitiv.

2)umgekehrt steht die "unpersönliche" Variante nur bei Intransitiven, die naturgemäß kein Akk.objekt nach sich ziehen.
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Re: Gerundivum mit unpersönlicher Verwendung

Beitragvon Willimox » Do 11. Feb 2021, 14:38

Grüße Dich, Sinatra,

es ist zwar nicht so richtig elegant, bei Erklärungen auf die deutsche Sprache zurückzugreifen, aber ich probiere es trotzdem:


es muss gelobt werden
Laudandum est
("unpersönliche" Konstruktion, das "Opfer" des Lobens wird nicht genannt.)

Mihi laudandum est
Es muss von mir gelobt werden.
Ich muss loben.
("Unpersönliche" Konstruktion, der Täter wurde genannt: lat. Dativ/Dativus auctoris)

Discipulus laudandus est
Der Schüler muss gelobt werden.
("persönliche" Konstruktion: das Opfer wird genannt, das Gerundiv kongruiert nun mit dem "Opfer", der Täter wird nicht genannt)

Discipulus mihi laudandus est.
Der Schüler muss von mir gelobt werden
Ich muss den Schüler loben.
(Opfer genannt: persönliche Konstruktion, nicht mehr ein "unbestimmtes" Neutrum; Täter wird genannt: lat. Dativ)


Respondendum est.
Es muss geantwortet werden.
Man muss antworten.
Unpersönliche Konstruktion, das "Opfer" lässt sich bei einem Dativverb nicht setzen, anders wäre es bei "beantworten"; Täter wird nicht genannt.)

Mihi respondendum est.
Von mir muss geantwortet werden.
Ich muss antworten.
(Unpersönliche Konstruktion, neutrales, unbestimmtes -um)

Von mir muss geantwortet werden.
Ich muss antworten.
(Unpersönliche Konstruktion, kein "Opfer" vorhanden; Täter im Dativ genannt.)

Du siehst:

Der etwas missverständliche Ausdruck "persönliche/ unpersönliche Konstruktion versucht die Opferrolle zu erfassen - nicht etwa die Person des Täters... :)

respondere alicui" jemandem antworten ist der Typ eines Verbs ohne Akkusativobjekt, dei Handlung wirkt nicht direkt auf das Umfekd ein. Es gibt kein direktes, unmittelbares Objekt. Das Verb ist nicht transitiv, sondern intransitiv.

Jetzt kann man sich vorstellen, was alles los ist, wenn man ein Verb vor sich hat, das nur im Lateinischen intransitiv ist:
invidere alicui: jemanden beneiden (,jemandem Neid entgegenbringen)

invidendum est

mihi (Dativ des Täters ) invidendum est
mihi (Dativ des Opfers, Täter nicht gemeint) invidendum est.
Zuletzt geändert von Willimox am Do 11. Feb 2021, 14:51, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Gerundivum mit unpersönlicher Verwendung

Beitragvon Sinatra » Do 11. Feb 2021, 14:46

salvete!
Vielen Dank für die beiden raschen Rückmeldungen, gut, ich tue mich etwas schwer damit zu behalten, daß transitiv bedeutet, nur Akkusativ, nicht Dativobjekt...


Soweit alle klar und

a postea

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Re: Gerundivum mit unpersönlicher Verwendung

Beitragvon marcus03 » Do 11. Feb 2021, 15:06

Sinatra hat geschrieben:ich tue mich etwas schwer damit zu behalten, daß transitiv bedeutet, nur Akkusativ, nicht Dativobjekt...

vgl.
https://de.wikipedia.org/wiki/Transitiv ... (Grammatik)

Die Begriffe Transitivität und Intransitivität (von lat. transitus "der Übergang") beschreiben die Eigenschaften von Verben und sagen etwas über deren Valenz aus.
In dieser Grammatik werden unter transitiven Verben jene verstanden, die ein Akkusativobjekt regieren (können). Intransitive Verben hingegen können nicht mit einem Akkusativobjekt verbunden werden. Sie stehen entweder absolut*, d.h. ohne irgendein Objekt, oder mit anderen Objekten. Dadurch ist auch festgelegt, dass echte transitive Verben ein persönlich Passiv (ich schlage dich | du wirst von mir geschlagen) bilden können, intransitive wenn überhaupt nur ein unpersönliches (ich glaube dir | es wird dir von mir geglaubt).
http://www.latein-imperium.de/include.p ... tentid=207
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Re: Gerundivum mit unpersönlicher Verwendung

Beitragvon Sapientius » Do 11. Feb 2021, 16:33

2) Excitandum erit Gaium Marium nobis ab inferis?


Fehlerhafte Satzkonstruktion: eine passive Verbform (excitandum) mit Akkusativobjekt (Gaium M.).
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Re: Gerundivum mit unpersönlicher Verwendung

Beitragvon mystica » Do 11. Feb 2021, 19:17

.
Zuletzt geändert von mystica am Do 14. Jul 2022, 15:27, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Gerundivum mit unpersönlicher Verwendung

Beitragvon Willimox » Do 11. Feb 2021, 21:22

Salute, Sinatra,

hier nochmal zwei - wohl aufschlussreiche -Beispiele:

(a) Resistendum... senectuti est eiusque vitia diligentia compensanda sunt.
Cic. Sen. 35)

(b) Quae ante conditam condendamve urbem... traduntur, ea nec adfirmare nec refellere in animo est.
Liv. praef. 6)
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Re: Gerundivum mit unpersönlicher Verwendung

Beitragvon Sapientius » So 14. Feb 2021, 11:31

Tiberis hat geschrieben: ... nur bei transitiven Verben ...


Ich würde mich lieber anders ausdrücken; wir unterscheiden in der Grammatik Formenlehre und Syntax, getrennt; Verben gehören in die Formenlehre; Objekte in die Syntax, nämlich als Satzteile; Verben haben keine Objekte, sondern nur Flexionsendungen, Tempora, Modi; genau genommen sind nicht Verben transitiv, sondern Prädikate; also besser: Verben in der Funktion des Prädikats können (in)transitiv sein; man muss es ja nicht so ausdrücken, aber man sollte sich wenigstens bewusst sein, dass es so ist.

... kein Akk.objekt nach sich ziehen.


Das "Nach-sich-Ziehen" ist so bildhaft, metaphorisch; lieber präzise geasagt: "... das Prädikat regiert ein Akk.objekt", es handelt sich ja um Kasus-Rektion.
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Re: Gerundivum mit unpersönlicher Verwendung

Beitragvon Willimox » So 14. Feb 2021, 12:04

Hm,
ein Verb wie "invidere" lässt M,T und PN(G) erstmal beiseite, es füllt diese Informationsstellen allerdings in der Finiten Verbform.

Ob nun finit oder infinit: das Verb präsentiert im Stamm seine Grundbedeutung: Ein Aktant in der Rolle des Beneidenden, Agens. Ein Aktant, der Patiens ist, den also der Neid trifft. Ein Aktant ist auch das Gut, um das man jemanden beneidet. Ein anderer Aktant gibt eventuell an, aus welchem Motiv jemand neidet.

Kurz: in der Semantik eines Verbs ist ein Grundszenario gespeichert. Das wird dann in der Syntax entfaltet. In der traditionellen Grammatik wurde es gern mit syntaktischen Kategorien beschrieben, das ist nichts Falsches. Wir kennen ja etwa Begriffe wie "logisches Subjekt" (Die Partie wurde vom Herausforderer verloren > Der Herausforderer verlor die Partie; mir ist unwohl > Ich fühle mich nicht wohl) und kommen damit ganz gut zurecht.

Freilich scheint mir das Aktantenmodell griffiger zu sein, erweitert aber die traditionelle Terminologie und macht sie damit für viele "unhandlicher".

Das lässt sich erweitern und ins Ethologische setzen. Wir sind als Menschen wohl mit (angeborenen und erworbenen) epischen Schemata in unserem Bewusstsein ausgestattet. Sie sind dort gelagert als Problemlösungsalgorithmen und lassen sich bei Bedarf abrufen.

Auf diese Weise befinden wir Menschen uns immer in Geschichten und sehen uns in "sinnvollen" Ereignis-Sequenzen. Das Einzelereignis wird so aus seiner momentanen Isolation erlöst und zum Teil einer sinnvollen Ereigniskette gemacht. Insofern ist der Mensch ein "animal poeta". Und als Poiesis-Vorgabe erweist sich so schon das Einzelverb "invidere" mit seinem Szenario. Und unsere Sprache und...
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