Kritische Ausgabe vs. Essay

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Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon Bloedel » Fr 13. Nov 2020, 12:04

Salvete,

ich habe ein Problem mit folgender Textstelle aus Justinians corpus iuris civilis (D. 46, 4,8)
fingamus eum, qui accepto ferebat, scientem prudentemque nullius esse momenti acceptilationem sic accepto tulisse.

Nehmen wir den an, der den förmlichen Erlass ausspricht, wobei er weiß und klug <ist>, dass der Erlass keinerlei Bedeutung hat.

Wie bekomme ich das prudentem unter? Indem ich eine Ellipse von esse annehme? Und das sic accepto tulisse kann ich auch nicht in den Satz einbauen, da es nicht verbunden ist. In einem Essay wurde der Vorschlag gemacht, dass die Interpunktion falsch ist und der Ausdruck sic accepto tulisse in den nächsten Satz

sic accepto tulisse quis dubitat non esse pactum, cum consensum paciscendi non habuerit?

zu ziehen ist. Aber die kritische Ausgabe nach Mommsen sieht den Ausdruck noch in dem vorherigen Satz.

Wer kann mir helfen? :nixweiss:
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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon marcus03 » Fr 13. Nov 2020, 12:48

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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon Bloedel » Fr 13. Nov 2020, 13:05

Lieber Marcus,

den Aufsatz kenne ich, aber er beantwortet meine Frage nicht, weil diese Stelle darin nicht diskutiert wird bzw. behandelt er die Frage, ob dieser Satz eine Glosse ist, aber er wird nicht grammatikalisch erklärt :-)
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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon iurisconsultus » Fr 13. Nov 2020, 13:48

Hallo,

ich kenne leider keine Details zu der Stelle, aber ich würde übersetzen:

Lass uns einen annehmen, der die „acceptilatio“ erteilen wollte/zum Schein erteilt hat (conativ), aber wusste und sich bewusst war, dass die „acceptilatio“, die er unter solchen Umständen erteilt hat, (rechtlich) keine Bedeutung hat.

Ich bin mir aber auch nicht sicher!
Zuletzt geändert von iurisconsultus am Fr 13. Nov 2020, 14:03, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon Willimox » Fr 13. Nov 2020, 14:02

Salute!

An inutilis acceptilatio utile habeat pactum, quaeritur: et nisi in hoc quoque contra sensum est, habet pactum. dicet aliquis: potest ergo non esse consensus? cur non possit ?
fingamus eum, qui accepto ferebat, scientem prudentemque nullius esse momenti acceptilationem sic accepto tulisse: quis dubitat non esse pactum, cum consensum paciscendi non habuerit?


Ich frage mich, ob hier ein AcI in Abhängigkeit von "scientem prudentemque" (mit Vorbedacht) vorliegt, vielleicht sogar plausibel:

Stellen wir uns vor, der Erlassspender habe wohlwissend, dass diese Sache nichtig sei/wohlwissend um die Nichtigkeit der Sache den Erlass getätigt: Wer zweifelt dann daran....

Oh, ich sehe, dass unser jurisconsultus bereits die gleiche Struktur ins Spiel gebracht hat.

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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon iurisconsultus » Fr 13. Nov 2020, 14:08

Kein Problem Willimox. :)
Hintergrund der Stelle ist sicher eine rechtlich unbeachtliche reservatio mentalis.
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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon marcus03 » Fr 13. Nov 2020, 14:43

que (explikativ = und zwar) könnte prudentem prädikativ anschließen.
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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon Willimox » Fr 13. Nov 2020, 14:50

Ja, mit einigerSicherheit wird so ein AcI generiert.
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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon marcus03 » Fr 13. Nov 2020, 14:52

Aci mit sic accepto tulisse als Subjektsinfinitiv.
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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon Willimox » Fr 13. Nov 2020, 15:54

@marcus03

hm,
fingamus + eum accepto tulisse.... Fortsetzung mit rhetorischer Frage: quis dubitat?
scientem prudentemque rem nullius momenti esse ... eine attributive Bestimmung zu "eum", ruft dann den AcI "rem nullius momenti esse" hervor.
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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon marcus03 » Fr 13. Nov 2020, 16:14

wörtl.: ... einen, der weiß und zwar mit Vorbedacht, dass das So-quittiert-haben keine Bedeutung hat/wertlos ist

https://de.wikisource.org/wiki/RE:Acceptilatio
https://de.wikipedia.org/wiki/Stipulation
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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon iurisconsultus » Fr 13. Nov 2020, 16:27

Ich habe gerade kurz in meinem Lehrbuch zum Römischen Recht nachgeschlagen. Demnach will uns die Stelle sagen, dass ein formungültiger Erlass als formloses „pactum“ wirksam war (= Konversion).
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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon Willimox » Fr 13. Nov 2020, 16:45

Salve, Marce03,

das leuchtet mir auch ein.

fingamus eum, qui accepto ferebat, scientem prudentemque nullius esse momenti acceptilationem sic accepto tulisse.

einen, der weiß und zwar mit Vorbedacht, dass das So-quittiert-haben keine Bedeutung hat/wertlos ist
Stellen wir uns vor, der Erlassspender habe wohlwissend, dass dieser Schuldenerlass nichtig sei/wohlwissend um die Nichtigkeit des Erlasses den Erlass getätigt: Wer zweifelt dann daran....


Salve, iurisconsulte!

Auch wenn Du nachgeschlagen hast, stimulieren mich die Details.

Die Passage scheint wirklich - überlieferungstechnisch - ein Problem zu liefern. Ist doch inhaltlich im zweiten Teil eher ein unzulässiger Schluss zu beobachten, der wohl weniger dem Juristen als vielmehr der Überleiferung anzulasten sein dürfte.

Wir wissen ja durchaus, dass eine Ungültigkeit vor allem dann nur vorliegt, wenn der Rezipient um die "reservatio mentalis" des Emittenden explizit Bescheid weiß. Wie kann es sein, dass das pactum de non petendo am fehlenden consensus der Parteien scheitert, nur weil der Gläubiger insgeheim weiß, dass der Erlass unwirksam ist? Soll der Schuldner schutzlos bleiben, obwohl der Gläubiger den Erlass erklärt hat?

Hier die Passage mit einer besonderen Interpunktion ("acceptilationem." ....). Bloedel hatte darauf schon hingewiesen:

„dicet aliquis: potest ergo non esse consensus?
cur non possit?
fingamus eum, qui accepto ferebat, scientem prudentemque nullius esse momenti acceptilationem.
sic accepto tulisse quis dubitat non esse pactum,
cum consensum paciscendi non habuerit?“

„Es mag einer sagen: Kann die Übereinstimmung also nicht vorhanden sein?
Warum sollte sie nicht können?
Stellen wir uns einen (den) vor, der den förmlichen (Schulden-)Erlass erklärt, wohlwissend, dass dieser Erlass keinerlei Wirkung hat.
Wer kann daran zweifeln ("Es ist doch klar"), dass es keine Abrede darstellt,
derart denförmlichen (Schulden-)Erlass vorgenommen zu haben,
weil er kein Einverständnis zu einer Abrede hatte?“


Daher mag unsere Übersetzung hier korrekt sein, aber juristisch eher verzweiflungsfördernd und insofern überlieferungstechnisch zu überprüfen.
Was meint iurisconsultus?

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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon iurisconsultus » Fr 13. Nov 2020, 17:35

Hallo Willimox,

ich dachte zunächst an eine Mentalreservation. Das war aber falsch, weil im Römischen Recht noch die Willenstheorie galt, welche erst in der Pandektistik zugunsten der Erklärungs- bzw. Vertrauenstheorie aufgegeben wurde. Seither ist ein geheimer Vorbehalt des Erklärenden unbeachtlich, sofern ihn der
Erklärungsempfänger nicht erkennen muss. Ulpian blieb daher nichts anderes übrig, als eine Konversion anzunehmen, um den Schuldner zu schützen. Für die Rechtsfrage hat die konkrete Punktuation dieser Stelle mE keine entscheidende Bedeutung. Grammatisch traue ich mir kein Urteil zu.
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Re: Kritische Ausgabe vs. Essay

Beitragvon Willimox » Fr 13. Nov 2020, 18:56

Gratias tibi, iureconsulte.

Grammatikalisch sind die Strukturen durchschaubar. Egal, ob Aci nach scientem prudentemque oder ein Subjektsinfinitiv tulisse mit prädikarsnomen+esse. Das eigentlich Bedrückende ist die juristische Logik des Satzes mit "quis dubitat". Eine "Reservatio mentalis" scheint mir trotz deiner historischen Anmerkung im Spiel zu sein....

Das muss ich noch sickern lassen, was du schreibst.
Kann gut sein, dass sich noch mal Zweifel melden.
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Zuletzt geändert von Willimox am Fr 13. Nov 2020, 19:22, insgesamt 1-mal geändert.
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