Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

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Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Laptop » Di 16. Apr 2019, 04:38

Hallo Freunde, gab es eigentlich in der Antike einen Begriff vom Naturganzen = die natürliche Welt, Pflanzen, Tiere, usw.? So wie ich das gelesen habe ist der klassische Ausdruck natura rerum eher zu verstehen als "Wesen der Dinge", "der Lauf der Dinge". Das was die Dinge nunmal so an sich haben. Keinesfalls als die Mutter Natur bzw. die Welt, die man in Abgrenzung zur Menschenwelt (mundus artificialis) betrachtet. Oder irre ich? ¶ Auch völlig offroad erscheinen mir die Ausdrücke natura naturans und natura naturata von Averroe bzw. Scotus, da es kein Verb *naturare gibt, und schon gar nicht eines was aktive Diathese und passive Diathese ermöglichte. Es gibt nur das Medium nasci (entstehen), man kann nicht *entstanden werden. Die mit Transitivität ausgestattete Variante von nasci ist lat. gignere. ¶ Mal fiktiv angenommen, ich wollte zu Ciceros Zeiten allgemein verständlich das Naturganze sprachlich zum Ausdruck bringen, was würde ich da sagen? Meine Idee war creatio Dei, weil es zwangsläufig die creatio hominis ausgrenzt, und damit logisch korrekt scheint, aber pragmatisch wohl keiner versteht? Bspw. wer versteht schon "Aedificio degere me taedet, quid sentis ut in creationem Dei eamus" (Laß ma ab ins Grüne machen). Außerdem stört der Bestandteil "Deus" etwas in Hinsicht auf klassischen Sprachstil. Auch finde ich längliche Umschreibungen nicht sonderlich attraktiv, da sie eher verhindern dass man das Gesagte als gedankliche Einheit (conceptum distinctum) versteht. Wäre vielleicht schlicht mundus naturalis eine gangbare Wahl? Mich dünkt das war in antiken Ohren nur Kauderwelsch wie "die gebürtige Welt", also reichlich sinnfrei?
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Tiberis » Di 16. Apr 2019, 21:05

Laptop hat geschrieben:Aedificio degere me taedet, quid sentis ut in creationem Dei eamus

ob Cicero und seine Zeitgenossen das verstanden hätten, lasse ich jetzt einmal offen... :lol:
es geht hier ja um den Gegensatz "im Haus - im Freien", also würde man sagen " nonne foras ire iuvabit?"
Ob dieses "im Freien" sich nun auf verbautes oder unverbautes Gebiet bezieht, geht aus foras naturgemäß nicht hervor. Will man es auf "die Natur" i.e. S. beschränken, also auf Bereiche außerhalb der Stadt, müsste man auf Wörter wie rus, campus, silva etc. ausweichen. Mit natura geht es jedenfalls nicht.
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Laptop » Mi 17. Apr 2019, 07:58

Gut, jetzt weiß ich schon mal was nicht geht. ich nehme an meine ut-Konstruktion hätte für Cicero wohl eher ein AcI sein müssen. Davon abgesehen geht mundus naturalis wohl auch nicht. Jetzt ist nur noch die Frage geht da noch was. Und ob es die Vorstellung der natürlichen Welt als gedankliche Einheit ( Denk-Element ) damals gab? Ich entnehme Deinen Worten: die Vorstellung gab es so deckungsgleich nicht. Foras, rus, campus usw. sind Ausweichpfade, ich behalte das mal als Option.
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Prudentius » Mi 17. Apr 2019, 09:58

Das Naturganze heißt gr. physis, l. rerum natura; das Lehrgedicht von Ciceros Zeitgenossen Lukrez heißt ja "de rerum natura", das entspricht dem gr. "peri physeos", das war der übliche Titel.

Das Schwierige dabei ist aber, dass in dem Naturbegriff der Antike und dem unseren der ganze Gegensatz des Weltbildes zum Ausdruck kommt; für die Antike ist physis/natura ein metaphysischer Begriff, er bezeichnet das Feste, Bleibende, Ewige und damit Göttliche, an dem wir Menschen uns orientieren können. Für uns aber ist die Natur "in Entwicklung", Evolution, wie alles andere.

Die Begriffe "natura naturans" und "natura naturata" waren für die ma. Philosophen und Theologen nützlich, da haben sie nicht bei den Grammatikern rückgefragt, ob sie sprachlich korrekt gebildet sind :-D .
Das ist doch immer so, nimm doch nur so etwas wie "subiectum" und "obiectum"!
Die aktive Form bezeichnet das Schöpferische, Dynamische, die passive das naturgesetzlich festgelegt Ablaufende.
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Laptop » Mi 17. Apr 2019, 12:15

Hallo Prudentius. Ich verstehe dass physis und natura rerum gleichgesetzt wurden, aber decken sich beide wirklich? So wie ich das verstehe bezeichneten die Griechen mit physis das Stoffliche, wohingegen die Römer mit natura das Wesenhafte meinten. Nun mußte man also das Anhängsel ".. rerum" hinzufügen, aber macht es das unbedingt Stofflicher? Ist natura rerum nicht vielmehr eine Entsprechung, die die Stofflichkeit/Dingwelt einfach nicht ausdrücken kann, weil sie auf einer abstrakten Ebene bleibt? Letztlich komme ich von dem Gedanke nicht los, dass natura rerum nur soviel wie "All-Beschaffenheit" bedeutet.

Außerdem müßte ein passender terminus auch die Menschenwelt ausklammern, denn die Menschenwelt steht bei unsrem modernen Verständnis von "Natur" der Natur gegenüber. Erfüllen physis / natura rerum dieses Kriterium?

Stimmt, nat. naturans verhält sich zur nat. naturata wie Subjekt zu Objekt, ich nehme an, man wollte genau das im MA voneinander differenzieren. Auf der einen Seite die Natur als wirkendes Prinzip, auf der andren Seite als das ( von der natura naturans ) Geschaffene. Kurz gesagt, Natur als Subjekt, und Natur als Objekt.
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Laptop » Do 18. Apr 2019, 09:14

Freundschaft? Brötchen? Verstehe nicht was Du sagen willst :?
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Prudentius » Do 18. Apr 2019, 09:49

Stilübungen sind ja nützlich, da wo sie sein müssen, aber viel Inspiration geht nicht von ihnen aus :sad: ; andere Baustellen sind lohnender, wie die Frage nach dem Weltganzen, sie steht ja bei uns seit Thales im Mittelpunkt.

So wie ich das verstehe bezeichneten die Griechen mit physis das Stoffliche


Hallo Laptop, ich glaube, da hast du zu sehr die moderne Unterscheidung auf die Antike übertragen; das Stoffliche, im Gegensatz zum Geistigen, unterscheiden wir ja erst richtig seit Descartes, 17. Jh., dem Gründungsvater der nztl. Philosophie, mit seiner "res cogitans" gegenüber "res extensa", ausgedehnte Sache. Der Mensch wurde immer in die physis einbezogen, er war ja ein "zoon", ein Zoo-Bewohner; auch die Römer definierten ihn als "animal rationale", aber eben als animal, dem Tierreich zugehörig.
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Laptop » Do 18. Apr 2019, 12:08

Du hast recht, Prudentius, ich habe da wohl den modernen Gedanken der Physis im Kopf gehabt. Gut, physis und rerum natura bezeichnen das Ganze, sowohl stofflich als auch wesenhaft. Bleibt nur noch das Problem, dass es die Menschenwelt wohl leider miteinbezieht.
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Laptop » Do 18. Apr 2019, 14:05

Stomachatus, trag doch bitte lieber was zur Thematik bei. Dazu braucht es keine Freundschaft. Warum musste beispielsweise im Lateinischen "... rerum" angehängt werden, wohingegen gr. physis schon für sich allein genug war? Ich glaube nicht, das solche Fragen in einer Stilfibel behandelt werden.
Zuletzt geändert von Laptop am Do 18. Apr 2019, 14:08, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon marcus03 » Do 18. Apr 2019, 14:08

Stomachatus stomachandi causa tantum nostro in foro versari solet.
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Laptop » Do 18. Apr 2019, 14:09

marcus03 hat geschrieben:Stomachatus stomachandi causa tantum nostro in foro versari solet.

Nun ja, das hat wohl auch seinen Zweck. Wie in der Natur gibt es solche und solche Gewächse, und für jeden ist Platz genug ;-)
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon marcus03 » Do 18. Apr 2019, 14:22

Qui perpertuo stomachatur, certe habet, quod stomachetur. ;-)
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon iurisconsultus » Do 18. Apr 2019, 17:01

Soweit ich weiß, ist ja nicht klärbar, ob Lukrez mit „rerum natura“ den allgemeineren griechischen Ausdruck „physis“ (Natur) oder den spezielleren epikureischen Ausdruck „physis pragmaton“ (Natur der Dinge) übersetzen wollte.
Qui statuit aliquid parte inaudita altera,
aequum licet statuerit, haud aequus fuit.
(Sen. Med. 199-200)
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Laptop » Do 18. Apr 2019, 19:06

Habe jetzt bei Kant dieses Problem ziemlich genau beschrieben gesehen, er unterscheidet die formale Natur von der stofflichen Natur, unserm modernen Konzept von Natur:
Natur, adjective (formaliter) genommen, bedeutet den Zusammenhang der Bestimmungen eines Dinges nach einem innern Princip der Causalität. Dagegen versteht man unter Natur substantive (materialiter) den Inbegriff der Erscheinungen, so fern diese vermöge eines innern Princips der Causalität durchgängig zusammenhängen. Im ersteren Verstande spricht man von der Natur der flüssigen Materie, des Feuers etc. und bedient sich dieses Worts nur adjective; dagegen wenn man von den Dingen der Natur redet, so hat man ein bestehendes Ganzes in Gedanken.

Aristoteles nun, sagt ausdrücklich dass φύσις für ihn nur natura als qualitas innata vel nativa ist, also nur die angeborne Art, Beschaffenheit bzw. Eigenschaft einer zugrundeliegenden Sache.
ἐν ὑποκειμένῳ ἐστὶν ἡ φύσις ἀεί.

Das Zugrundeliegende muss nicht unbedingt stofflich sein. Aber in jedem Fall ist φύσις für ihn keine selbständige Entität, genausowenig wie "Qualität" für sich selbst existiert, es gibt immer nur die Qualität von einem Etwas. Insofern zweifle ich etwas daran, geschätzter Prudentius, dass φύσις bzw. natura (rerum) in antikem Sinne das Naturganze bezeichnen kann. Bist Du dir sicher die Alten den Begriff des Naturganzen kannten? Ich habe das Werk Lukrez ' hier stehen, aber er meint mit "De natura rerum" wirklich nicht das Naturganze, sondern, ich zitiere, etwa "Die Natur der Dinge" oder "Vom Wesen des Weltalls", und, ich möchte eine dritte und freier übersetzte Option hinzufügen, "Vom Lauf der Dinge".
Zuletzt geändert von Laptop am Fr 19. Apr 2019, 13:21, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Die Natur als das Naturganze, klass. bekannt?

Beitragvon Prudentius » Fr 19. Apr 2019, 10:01

Es ist zu vieles, auf was ich eingehen möchte, ich greife mal was heraus: physis brauchte im Gr. anfangs keinen Zusatz, es verstand sich von seinem Gegensatz her: thesis, Setzung, Satzung, das, was Menschen, Autoritäten, festgelegt haben, Konvention, auf was man sich geeinigt hat, Tyrannengesetz, willkürliche Vorschriften.
Bei den Gr. bestand eine lebhafte Diskussion darüber, was physis (beständig, ewig, recht), und was menschliche, begrenzte, von Eigeninteresse festgelegte Konvention ist. Die Sophisten haben diese Diskussion angestoßen.
Physis versteht sich also vom Gegensatz Thesis her, da braucht es keinen Zusatz.
Anders im L., da gab es diese Diskussion nicht; da wurde natura mit Zusatz gebraucht, wie: natura deorum.

Peri Physeos war der standardmäßige Titel der frühen philosophischen Werke, ich weiß gar nicht, ob der Titel von den Autoren gewählt wurde, oder von den Bibliothekaren festgelegt wurde. Eine individuelle Titelwahl wie bei uns gab es jedenfalls noch nicht.

Ich weiß auch nicht, ob Lukrez überhaupt sein Werk so betitelt hat, oder ob die Herausgeber das auf den Ordner geschrieben haben.
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