Liebesepigramme bei Catull

Das Forum für professionelle Latinisten und Studenten der Lateinischen Philologie

Moderatoren: Zythophilus, marcus03, Tiberis, ille ego qui, consus, e-latein: Team

Liebesepigramme bei Catull

Beitragvon Richard84 » So 10. Mär 2013, 17:06

Salvete sodales,

ich habe ein paar Fragen zum folgenden Gedicht:

Catull, c. 70
Nulli se dicit mulier mea nubere malle
     quam mihi, non si se Iuppiter ipse petat.
dicit: sed mulier cupido quod dicit amanti,
     in uento et rapida scribere oportet aqua.

Das carmen scheint ja von Desillusionierung und Mißerfolg in der Liebe zu handeln (insofern ja Tibull & Porperz ähnlich zu sein, mit denen ich mich besser auskenne).

1) Wie aber sind die Worte mulier und nubere zu deuten?

Hier
http://books.google.de/books?id=Z7RWt_p ... er&f=false
heißt es, dass nubere "nur eine sexuelle Beziehung" bezeichnen würde. Darauf könnte ja auch "Iuppiter" verweisen, dem wohl schwerlich ein Ehebund mit einer Irdischen vorschwebt... :D
Trotzdem finde ich mulier als Bezeichnung komisch. Was könnten denn Gründe hierfür sein?

2) Auch wenn man mulier & nubere so, also im rein sexuellem Sinne, deutet, scheint es ein wenig verdreht zu sein, eine verkehrte Welt - denn so einen Ausspruch wie im letzten Vers würde man wohl eher von einer Frau erwarten (jedenfalls nach dem Selbstverständnis eines vir vere Romanus).
Ich tippe mal auf Ironie.

Eure Meinung zu den Deutungsvorschlägen würden mich sehr interessieren. :-D
ignorantque datos, ne quisquam serviat, enses.
Richard84
Consul
 
Beiträge: 325
Registriert: Fr 24. Nov 2006, 20:10
Wohnort: Hannover

Re: Liebesepigramme bei Catull

Beitragvon romane » So 10. Mär 2013, 18:07

Die Freiheit ist ein seltsames Wesen - wenn man es gefangen hat, ist es verschwunden

www.mbradtke.de
Benutzeravatar
romane
Pater patriae
 
Beiträge: 11669
Registriert: Fr 31. Mai 2002, 10:33
Wohnort: Niedersachsen

Re: Liebesepigramme bei Catull

Beitragvon Willimox » So 10. Mär 2013, 19:38

Salvete, sodales:

Bild
NVLLI se dicit mulier mea nubere malle
quam mihi, non si se Iuppiter ipse petat.
dicit: sed mulier cupido quod dicit amanti,
in uento et rapida scribere oportet aqua.

Es ist wohl so, dass hier - auch wenn Romanes anzitierter Rieble das wohl nicht so sieht - der Doppelpunkt nach dem zweiten dicit keineswegs textsignifikant ist und noch dazu eine wörtliche Rede Lesbias einleitet.

Genausowenig einleuchtend Riebles Hinweis auf den Verheiratetenstatus von Lesbia (vgl. carmen 72), dessen Auflösung eine conditio sine qua non - so Rieble - für ein tiefes Liebesverhältnis oder gar eine offizielle Heirat wäre.

"nubere" und "mulier" oszillieren durchaus über den engen Bezirk "nur Sexuelles" oder "Nur Eheliches" hinaus. Auf die Zahlendeutung Riebles sei hier nicht eingegangen.

So ist denn auch dann von einer tiefen und reflektierten Desillusionierung - sie sagt es nur, aber was die Frau einem begierigen Liebhaber sagt, das ist in den Wind zu schreiben und ins reißende Wasser - in den Distichen auszugehen:

Das lyrische Ich hat ja die Untreue in dem, was er andernorts als Liebesbündnis ("foedus") bezeichnet, erfahren.

Di magni, facite ut vere promittere possit,
atque id sincere dicat et ex animo,
ut liceat nobis tota perducere vita
aeternum hoc sanctae foedus amicitiae. (carmen 109)

Caeli, Lesbia nostra, Lesbia illa,
illa Lesbia, quam Catullus unam
plus quam se atque suos amavit omnes,
nunc in quadriviis et angiportis
glubit magnanimos Remi nepotes. (Carmen 58)

Bild
Die intertextuelle Bezugnahme auf Kallimachos und die Variation von seinem Epigramm 11 ist davon unbenommen.

Bilder: Lawrence Alma-Tadema
Benutzeravatar
Willimox
Senator
 
Beiträge: 2725
Registriert: Sa 5. Nov 2005, 21:56
Wohnort: Miltenberg & München & Augsburg

Re: Liebesepigramme bei Catull

Beitragvon Richard84 » Mo 11. Mär 2013, 18:35

Danke für Eure beiden hilfreichen Anmerkungen!

Willimox, Du postest immer die wunderschönsten Bilder, danke auch dafür! :D
ignorantque datos, ne quisquam serviat, enses.
Richard84
Consul
 
Beiträge: 325
Registriert: Fr 24. Nov 2006, 20:10
Wohnort: Hannover

Re: Liebesepigramme bei Catull

Beitragvon Zythophilus » Mo 11. Mär 2013, 18:56

Auch wenn die Forschung zum Großteil davon ausgeht, dass eine reale Beziehung hinter den Gedichten steht, darf man das Biographische nicht überbewerten.
Zythophilus
Divi filius
 
Beiträge: 17032
Registriert: So 22. Jul 2007, 23:10
Wohnort: ad Vindobonam

Re: Liebesepigramme bei Catull

Beitragvon Prudentius » Do 14. Mär 2013, 10:40

von einer tiefen und reflektierten Desillusionierung ... in den Distichen auszugehen:


Allzu tief brauchen wir sie uns wohl nicht vorzustellen, die miseria des Elegikers ist ja gattungsbedingt und programmatisch (Miser Catulle...; Cynthia ... miserum me cepit, Properz), der Dichter schlüpft in diese Rolle, das ist das alexandrinische Kunstideal. Von Sex ist nicht die Rede, nur von Frust und eitlen Sehnsüchten, und die lebenslange Ehe ist nur die Folie für die zerstobenen Wunschträume.
Prudentius
Senator
 
Beiträge: 3577
Registriert: Di 24. Mai 2011, 17:01

Re: Liebesepigramme bei Catull

Beitragvon Sokrates Palaios » Fr 15. Mär 2013, 20:49

Falls es jemanden interessiert: Vor 3 Jahren habe ich hier mal eine metrische Übersetzung dieses Catull-Gedichtes gebracht:
viewtopic.php?f=24&t=28330&p=230744&hilit=Nulli+se+dicit+mulier+mea+nubere+malle#p230744
οἶδα οὐκ εἰδώς
Benutzeravatar
Sokrates Palaios
Censor
 
Beiträge: 714
Registriert: Mi 9. Nov 2005, 16:01
Wohnort: Alte Kurpfalz


Zurück zu Lateinische Philologie



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 14 Gäste