Grüß dich, Claudia,
0. Basicsdas Newcomb-Ding ist auf jeden Fall furchtbar knotenmaximierend. Die Überlegung, gar nicht gewinnen zu wollen und nicht habgierig zu sein, ist aller Ehren wert. Aber einmal kann man ja mit den Penunzen auch Gutes tun, dann ist es schon so, dass es wohl in jedem Menschen einen Gewinntrieb gibt, nur mehr oder weniger ausgeprägt und dann - das ist das Dritte - liegt ja eigentlich nur ein Spiel vor, ein Gedankenexperiment.
Dann ist es einfach sprachlich interessant, so einer Formulierung nachzugehen wie, "Wenn ich mich für beide Kästchen entscheide, dann hat das höhere Wesen oder was auch immer dies vorausgesehen und das zweite Kästchen leergelassen."
Hier ist die normale Zeitabfolge samt deren Rahmenbedingungen, die in Wenn-Sätzen fixiert wird, porös geworden.. ... Oder gar in "Weil-Sätzen".
1. Das theologische DilemmaNun, da geht es also darum, den menschlichen Horizont zu verlassen und einen anderen Erkenntnisraum anzusetzen. Ein höheres Wesen (Gott, Laplacescher Dämon) weiß genau, dass es läuft, wie es läuft, und ist allmächtig und somit in der Lage, daran etwas zu ändern.
Hier ist also nicht gesagt, dass das höhere Wesen alles geschaffen und dessen Verlauf fixiert hat. Immerhin könnte es aber eingreifen. Und natürlich könnte es auch alles geschaffen haben, das ist ja nicht bestritten. Andererseits unsere Sprachkonventionen legen die Vermutung nahe, die Behauptung meint nur den engeren Bereich.
Ein allwissender Gott muss nicht allmächtig und schon gar nicht gütig sein. Ein allmächtiger Gott ist dagegen höchstwahrscheinlich allwissend. Wie könnte er sonst die Macht über alles haben?
Ein allwissender Gott weiß per definitionem alles, was aus logischen Gründen zu wissen möglich ist. Daher scheint Gott beispielsweise auch zu wissen, wie ich mich morgen entscheiden werde. Wenn Gott nun weiß, wie ich mich morgen entscheiden werde, habe ich morgen keine Möglichkeit, mich anders zu entscheiden. Habe ich aber keine Möglichkeit, mich anders zu entscheiden, dann bin ich in meiner Entscheidung nicht frei. Da Gott nun aber zu jedem Zeitpunkt die gesamte Zukunft voraussieht, kann es zu keiner Zeit freie Entscheidungen geben.
Folglich besteht ein Widerspruch zwischen menschlicher Willensfreiheit und göttlicher Allwissenheit. Anders formuliert: Wenn es Wesen mit Willensfreiheit gibt, dann scheint es keinen allwissenden Gott geben zu können, und wenn die Allwissenheit zu den essentiellen, unverzichtbaren Prädikaten Gottes gehört, dann scheint es überhaupt keinen Gott zu geben.
2. Lösungsansatz a: "Überzeitlichkeit" bei BoethiusEine berühmte Lösung zu diesem Dilemma findet sich im 5. Buch der Consolatio philosophiae (Trost der Philosophie}. Boethius will hier zunächst zeigen, dass Gott menschliche Entscheidungen nicht voraussieht, weil Gott überzeitlich existiert, so dass auf Gott die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht anwendbar ist. Gott erkennt alles in seiner unmittelbaren Gegenwart.
Sodann will Boethius zeigen, dass Gottes überzeitliche Erkenntnis der menschlichen Entscheidungen diese ebensowenig determiniert wie unsere gegenwärtige Wahrnehmung von Ereignissen diese determiniert.
»Gleichwohl, wenn es überhaupt einen angemessenen Vergleich göttlicher und menschlicher Gegenwart gibt, so erblickt er alles in seiner ewigen Gegenwart, wie ihr einiges in eurer zeitlichen seht. Deshalb verändert diese göttliche Vorerkenntnis die Natur der Dinge und ihre Eigentümlichkeit nicht und erschaut bei sich jenes als gegenwärtig, was in der Zeit einst als zukünftig zum Vorschein kommen wird. Auch verwirrt sie nicht die Urteile über die Dinge, und in einem einzigen Schauen ihres Geistes erkennt sie ebenso das, was notwendig, wie das, was nicht notwendig kommen wird, so wie ihr tut, wenn ihr gleichzeitig einen Menschen auf der Erde wandeln und die Sonne am Himmel aufgehn seht; denn obwohl ihr beide zugleich erblickt, macht ihr doch einen Unterschied und stellt fest, dass jenes freiwillig, dieses notwendig geschehe. So verwirrt das das Weltall durchdringende Schauen Gottes die Eigenschaften der Dinge keineswegs, nur dass sie vor ihm gegenwärtig, in Beziehung zur Zeit aber zukünftig sind« (Trost der Philosophie, S. 140f).
Ob Boethius wirklich eine plausible Lösung des Problems gefunden hat, wird mit triftigen Gründen bezweifelt. Auch wenn Gott überzeitlich existieren würde, ändert dies nichts daran, dass zu jedem Zeitpunkt die Zukunft bereits feststeht, und zwar nicht unbedingt deshalb, weil Gott sie bestimmt hätte, sondern weil er sie bereits erkennen könnte.
Da diese Erkenntnis per definitionem unfehlbar ist, ist der zukünftige Erkenntnisverlauf festgelegt, d.h. ich kann mich zu keiner zukünftigen Zeit anders entscheiden, als Gott dies immer schon weiß. Im Hinblick auf das Problem der Willensfreiheit bringt Boethius' Definition der Ewigkeit als Überzeitlichkeit keinen erkennbaren Fortschritt.
3. Lösungsansatz b: Das Dokumentarfilm-ModellAndererseits wäre ein Gedankenmodell durchzuspielen, in dem die Überzeitlichkeitsvorstellung andere Optionen besitzt. Nehmen wir an unser Leben wird von einem Kameramann als ein Dokumentarfilm aufgenommen, die Randbedingungen (Regisseur, Psychokamera) klammern wir aus. Und ein überirdisches Wesen, nicht unbedingt allmächtig, aber allwissend, steht außerhalb der Zeit.
Die Zeitpunkte, die ein menschliches Wesen nur als Nacheinander erleben kann, sind für Kameramann, der den Film aufgenommen hat, fast "kopräsent". Einmal in seinem Kopf, dann auch auf der Filmrolle (da liegen die Bildabläufe beieinander). Ganz "kopräsent" sollte nun unser allwissendes Wesen diese Bilder observieren können.
Ähnlich wie wir in einem Raum in alle Richtungen wandern können, weil alle Raumpunkte koordiniert sind, vermag dieses Wesen die
unidirektionale Organisation unseres Zeiterlebens zu durchbrechen. Man kann sich unser Leben als eine aufgespulte Filmrolle mit unendlich vielen Einzelbildern vorstellen. Für den, der aufgenommen wurde, und für den, der den Film sieht, sind nur jeweils die Einzelbilder im Nacheinander rezipierbar, das Wesen dagegen hat auf jedes des Bilder gleichzeitig Zugriff.
Ist die Annahme, dass ein solches Wesen existiert, kompatibel mit der Annahme, dass der Akteur des Dokumentarfilms ein Wesen mit freiem Willen ist? Ein bisschen konkreter in (4)...
(4) Der Dämon sitzt vor unsNehmen wir an, der Dämon hat bisher ähnliche Experimente angestellt, er lag mit seinen Aussagen weitgehend richtig. Nehmen wir zweitens an, er ist eine Art Zeitreisender. Er kann Ihre Entscheidungen überblicken. Sie stehen mitten in ihrem Lebensfilm, er kennt diesen „Dokumentarfilm“: Das Leben selber schrieb das Drehbuch. Er kann „
voraussagen“, so würden Sie es formulieren. Für ihn sind die Zeitpunkte ihres Handelns kein
Nacheinander, für ihn sind sie „kopräsent“ wie die Bilder auf einer Kinofilmrolle.
Ist die Prognosefähigkeit, die wir dem Dämon jetzt einmal unterstellen, damit vereinbar, dass Sie eine freie Entscheidung treffen? Dass Sie – um in des Dämons Perspektive zu bleiben – viele freie Entscheidungen getroffen
haben?
a. Sie - lieber Leser - sind dreißig Jahre alt. Ein Dokumentarfilm Ihres bisherigen Lebens liegt als Filmspule mit Tonspur vor Ihnen. Der Dämon sagt: „Ich habe Zugriff auf jedes Bild und den Ton. Das Nacheinander der Zeitpunkte ist ein Nebeneinander. In der vierten Dimension kann ich blitzschnell wandern wie in einem normalen Raum. Ich kenne auf diese Weise alle Deine Handlungen in der Außenwelt. Ich kenne Deine Gespräche.“
b. Der Dokumentarfilm ist mit einer Röntgen-Psycho-Kamera gefilmt worden. Die Handlungen in der Außenwelt sind natürlich sowieso sichtbar. Aber es gibt noch eine interessante Eigenheit. Jedes Bild zeigt auch die Innenwelt von Dir: Deine Wahrnehmungen (Raum-, Zeit-, Zahl- und Bewegungseigenschaften) sind präsent, dazu die mentalen Begleitprozesse, also Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, dazu Abwägungsprozesse bei Entscheidungen. Der Dämon sagt: „Ich habe Zugriff auf jedes AW-IW-Bild.“
c. Der Dämon sagt: „Der Dokumentarfilm enthält nicht nur dein bisheriges dreißigjähriges Leben, nein, Dein ganzes achtundsechzigjähriges Leben und ist in jedem Bild (AW-IW; Außenwelt und Innenwelt) für mich zugänglich. Ich kann jede Deiner Handlungen oder Entscheidungen sehen, sei es als Außenbild, sei es als Innenbild. Auch die aktuelle Entscheidung sehe ich, ich meine Deine Entscheidung bezüglich der zwei anstehenden Alternativen, zwei Kästchen auf einmal zu öffnen oder nur B2 zu öffnen. Was machst Du jetzt also im Kästchenfall?“
d. Der Dämon lächelt: „Mich würde schon ein bisschen auch Philosophisch-Wissenschaftliches interessieren. Also sag mir: In welchem Maße oder Grad empfindest findest Du dich als „determiniert“. Bei a, bei b und bei c?“