Salve Abusina!

Neues aus der Antike: aktuelle Forschungsergebnisse, Ausgrabungen, Veranstaltungen und die Antike in den Medien

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Re: Salve Abusina!

Beitragvon Tiberis » Mo 25. Apr 2022, 15:24

Dieses "Generationenschema" verdeutlicht recht anschaulich den Niedergang des Schulfaches Latein, da sich die Schere zwischen Anspruch (Spracherwerb, Bildungsinhalte) und Realität immer weiter öffnet, allein schon aufgrund der stark reduzierten Stundenzahl. Die in den Lehrplänen so wortreich formulierten Bildungsaufträge mögen gut klingen und durchaus berechtigt erscheinen, aber ihre Umsetzung geht zwangsläufig zu Lasten des Spracherwerbs, sodass man früher oder später vor der Frage steht, ob die Schüler (für mystica: die Schüler:innen :D ) bei all dem schönen Gerede von Werteerziehung und Sprachreflexion eigentlich noch wissen müssen, was ein AcI oder ein ablativus absolutus ist. Wenn wir in diese Sprachreflexionsfalle tappen, indem wir gleichzeitig das Fundament eines jeden Lateinunterrichts, nämlich eine Vermittlung solider Sprachkenntnisse, sträflich vernachlässigen, ist das Schulfach Latein tatsächlich nicht mehr zu retten. :cry:
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Re: Salve Abusina!

Beitragvon Sapientius » Mo 25. Apr 2022, 16:25

Es gibt einen Aufsatz von Klaus Westphalen: ...


Klaus Westphalen war schon vor 50 Jahen für unsere Sache in Bayern aktiv, ich erinnere mich, damals stand die "Reform der gymnasialen Oberstufe" oder Kollegstufe im Raum, es ging darum, ob wir mit unseren Sprachen überhaupt in den Fächerkanon aufgenommen werden konnten, es war eine Überlebensfrage. Wir mussten unsere Fächer so profilieren, dass wir uns neben D und E behaupten konnten; wir musten gleichrangige Methoden der Texterschließung aufweisen, vergleichbare Angebote machen. Westphalen war ein Wortführer, trat viel bei Lehrerfortbildung auf, bei der Schaffung von Unterrichtsmaterial.

Fremdwörter wurden in unser Gärtlein hineingeschleudert, wie "Wissenschaftspropädeutik", Transfer zu anderen Fächern, Förderung von Urteilsvermögen und selbständigem Denken ("Begründen Sie, vergleichen Sie, nehmen Sie Stellung ...!").
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Re: Salve Abusina!

Beitragvon Medicus domesticus » Mo 25. Apr 2022, 17:08

Sehr schöne Aufschlüsselung, ClaudiaK!
Korrekterweise wurde die Stundenzahl schon gut reduziert, was Latein betrifft.
Im LK hatten wir 6 Stunden pro Woche und das zwei Jahre lang. Vorher auch schon Jahre Latein. Deswegen war die Zeit im LK da. Es ging nicht mehr darum, ob das ein AcI oder Ablativus absolutus ist. Bei uns waren im LK hauptsächlich gute Schüler. Bayern hat die zwei LK abgeschafft. Ob das gut war? :roll:
Man wird sich im heutigen Lateinunterricht schon die Frage stellen lassen müssen, WAS man, trotz reduzierter Stundenzahlen, eigentlich wirklich will. Wenn sich darüber keiner der Beteiligten Gedanken macht, ist das Fach auf kurz oder lang wegrationalisiert…
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Re: Salve Abusina!

Beitragvon ClaudiaK » Mo 25. Apr 2022, 18:04

Medicus domesticus hat geschrieben:Man wird sich im heutigen Lateinunterricht schon die Frage stellen lassen müssen, WAS man, trotz reduzierter Stundenzahlen, eigentlich wirklich will.


Wer ist man?
Soweit ich das sehe, ist der Lehrplan eine gesellschaftliche Entscheidung. Die Fachlehrpläne des jeweiligen Bundeslandes sind maßgeblich für die Unterrichtsgestaltung. In den Fachlehrplänen wird auch den aktuellen gesellschaftlichen Diskursen und Anforderungen Rechnung getragen. Ich denke, da gibt es eine gute Richtung in Bezug auf die Aufnahme von Anregungen. Dabei hat jede Epoche hat ihren eigenen Wert und fällt ihre eigenen (didaktischen) Entscheidungen.

Kann man gut oder schlecht finden. Wenn man es schlecht findet, sollte man sich fragen, ob man dann nicht einfach leidet, weil man mit seinem Wissen (wie es Bourdieu nennt) im sozialen Feld keine Statuspunkte mehr generieren kann. Denn tatsächlich gebe ich dir Recht: Die Frage muss gestellt werden: Wozu Bildungswissen? Zum Teil dient Bildungswissen "nur " dazu seine Status im gesellschaftlichen Umfeld zu erhöhen. Und man muss sich fragen lassen, was passiert, wenn Latein- und Antikenkennntnisse keine Referenzgröße sind, um Statuspunkte zu generieren.

Positiv gewendet heißt das:
Möchte ich, dass die Lateinische Sprache und die Kenntnisse der Antike eine wohlwollende Bewertung in der Gesellschaft erfahren, ergo um "Statuspunkte" zu generieren, und dass die unter Beweis gestellten Kenntnisse auf Hochachtung und Ehrerbietung stoßen, muss ich das soziale Umfeld dafür schaffen und interessiert halten. Da hilft nicht Angeberei, Selbsterhöhung, Abwertung aller, deren Kenntnisse geringer sind. Du willst, dass man dich schätzt für diese Kenntnisse m.d.? Dann, bitte, repräsentiere sie als positive charmante unterhaltsame Persönlichkeit, nicht als Dauerkluger und Besserwisser.
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Re: Salve Abusina!

Beitragvon Medicus domesticus » Mo 25. Apr 2022, 19:17

Lehrpläne waren noch nie eine Entscheidung der Allgemeinheit. Sie sind immer hinterhergehinkt, haben die Meinungen nie richtig abgedeckt und werden ebenfalls von den tätigen Lateinlehrern kritisiert.
Das ist Wunschdenken.
Ob du mich als Besserwisser oder sonst bezeichnest, das kannst du machen. Ich aber gebe nur einen Teil der Meinungen hier kund. Jeder Beitrag ist hier etwas wert.
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Re: Salve Abusina!

Beitragvon ClaudiaK » Mo 25. Apr 2022, 19:24

Medicus domesticus hat geschrieben:Jeder Beitrag ist hier etwas wert.

Das Gebot der freundlichen Zwischenmenschlichkeit und der wohlwollenden, bestärkende Kommunikation läßt mich antworten: So ist es. Da hast du recht.
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Re: Salve Abusina!

Beitragvon iurisconsultus » Di 26. Apr 2022, 15:40

Wir leben in einer Zeit, in der jedes Bildungsgut nicht als Wert an sich begriffen, sondern am gesellschaftlichen/ökonomischen Nutzen gemessen wird. Der ideelle Wert von Lateinkenntnissen ist groß, deren Nutzen gleich Null. Angesichts dessen bin ich schon froh, dass Latein überhaupt noch unterrichtet wird und das Fach - zumindest in Österreich - von den Schülern nach wir vor zahlreich gewählt wird, was für dessen (ungebrochene) Reputation spricht.
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Re: Salve Abusina!

Beitragvon mystica » Di 26. Apr 2022, 16:21

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Re: Salve Abusina!

Beitragvon iurisconsultus » Di 26. Apr 2022, 17:04

mystica hat geschrieben:Aber auch die Terminologie der Rechtswissenschaften und der Medizin wäre ohne Latein undenkbar.

Schon, nur kann die Terminologie auch derjenige lernen, der keinerlei Lateinkenntnisse hat. Aber was noch viel bedeutender ist: Niemand wird deshalb ein guter Jurist oder Arzt oder Philosoph oder Historiker oder sonst irgendetwas, weil er Lateinkenntnisse hat.
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Re: Salve Abusina!

Beitragvon mystica » Di 26. Apr 2022, 17:18

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Re: Salve Abusina!

Beitragvon iurisconsultus » Di 26. Apr 2022, 17:30

mystica hat geschrieben:Diese Halbbildung bei den Richtern merkt man bei der heutigen Rechtsprechung besonders schmerzlich.:lol:

Diese Replik ist irrig und recht enttarnend, dass dir kein echtes Gegenargument zur Hand ist. :wink:
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Re: Salve Abusina!

Beitragvon mystica » Di 26. Apr 2022, 17:47

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Re: Salve Abusina!

Beitragvon Tiberis » Di 26. Apr 2022, 18:51

mystica hat geschrieben:Es wäre m. E. sehr wünschenswert, wenn sich das Fach Latein an den Schulen von seiner einseitigen Fixierung auf die römische Antike und ihrer fatalen Favorisierung des Ciceronischen Stils verabschiedet und sich mehr der Vielfalt lateinischer Sprachformen öffnet, damit Latein als einigendes Band Europas wiederentdeckt werden kann


Da stimme ich dir zu, auch wenn du mit deiner Forderung gleichsam offene Türen einrennst. Schon längst werden im Unterricht nicht nur klassisch-antike Texte gelesen, wenngleich der Schwerpunkt naturgemäß bei ihnen liegt, da nun einmal Autoren, die Latein als Muttersprache hatten, nur in der Antike zu finden sind.
Die "fatale Favorisierung des Ciceronianischen Stils" betrifft im übrigen wohl eher die Universitäten (Stilübungen!) als den Schulunterricht, und ich meine auch, dass der Cicerokult mitunter seltsame Blüten treibt. Immerhin schreiben auch Autoren wie Caesar, Sallust oder Tacitus ein ganz hervorragendes Latein, von den Dichtern gar nicht erst zu reden. Wäre Latein eine ganz normale lebende Fremdsprache, würde sich die Grammatik am gegenwärtigen Sprachzustand orientieren. Da dies aber nicht so ist, braucht man eben eine "Referenzepoche" wie die Klassik (und deren prominenteste Vertreter sind nun einmal Caesar und Cicero), was natürlich eine willkürliche, wenn auch begründbare Festlegung ist.
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Re: Salve Abusina!

Beitragvon Medicus domesticus » Di 26. Apr 2022, 20:25

iurisconsultus hat geschrieben:Wir leben in einer Zeit, in der jedes Bildungsgut nicht als Wert an sich begriffen, sondern am gesellschaftlichen/ökonomischen Nutzen gemessen wird. Der ideelle Wert von Lateinkenntnissen ist groß, deren Nutzen gleich Null. Angesichts dessen bin ich schon froh, dass Latein überhaupt noch unterrichtet wird und das Fach - zumindest in Österreich - von den Schülern nach wir vor zahlreich gewählt wird, was für dessen (ungebrochene) Reputation spricht.


Das „gleich Null“ ist es auch nicht so ganz. Du lernst durch Latein und Antike schon viel…Nur eines : Den Schülern im Gymnasium ist das doch oft gar nicht bewusst. Latein ist ein Fach von vielen anderen, und? Da muß ich durch! Um das geht es doch den meisten. Mir persönlich ist auch erst im LK Latein bewusst geworden, dass das etwas ist, obwohl ich vorher schon Latein Jahre hatte. Es sind aber wenige, die direkt damit etwas anfangen können.
Meine Tochter hat morgen Deutsch-Abitur und ist aufgeregt. Latein hat sie auch im Abitur. Halte ihr die Daumen.. :-D

Was Latein im Unterricht weiter bedeuten soll, wird man sehen… neue Konzepte braucht gerade eine tote Sprache. Die Ideen sind da und auch die Konzepte.
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Re: Salve Abusina!

Beitragvon mystica » Mi 27. Apr 2022, 08:35

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