Nun ja, Hamburgers These lässt sich durchaus, wenn auch polemisch, als "unterkomplex" angreifen (ähnlich wie ihre Hinweise zum "epischen Präteritum").
Hier ein paar Ansätze....
(1) compassioKurz zur Semantik - der Begriff "Mitleid" bei Homer und bei Aristoteles (Rhetorik, Poetologie) und Späteren
- griech. eleos, oiktos, später auch sympateia,
- lat. commiseratio, compassio, misericordia,
- frz./engl. commiseration, compassion, pitié bzw. pity
fokussiert auf jeden Fall und einleuchtend bestimmte Komponenten:
- Einfühlung in ein unverdientes, unverhältnismäßiges, menschlich nachvollziehbares, nahes und insofern intensives Leid,
- oft zu beobachten als ein erster Affekt der Rührung und des mitleidenden Weinens,
- Primärstadium und Stimulus für ein oftmals zu beobachtendes Verhalten der Hilfe,
- sei es/sie "materiell", sei es/sie verbal tröstend und mit Zuwendung Leiden mildernd.
- Im Theater (z.B.) und seiner Welt zu beobachten, darin oft sich verströmend und abreagierbar.
-Aber eben doch fähig, die emotionale Disposition abzurufen, rational zu erweitern und dabei einen Sensibilisierungsprozess (zumindest) begleitend.
(2) Distanz und MitleidHamburgers These von der "Distanz des Mitleids" lässt sich z.B. so hinterfragen:
a) Es mag sein, dass Mitleid weder hinreichend noch notwendig für Barmherzigkeits-Handeln ist, aber das macht in keiner Weise einen Zusammenhang genuiner Art hinfällig.
Man vergleiche eine analoge (absurde) Argumentation wie:
Eine schwierige, von Schlägen geprägte Kindheit ist keineswegs hinreichend oder notwendig für eine Traumatisierung im Leben des Erwachsenen. Weder entsteht immer aus einer miesen Kindheit ein traumatisiertes Erwachsenenleben. Noch entsteht nur bei einer miesen Kindheit eine Traumatisierung.
Also ist eine entsprechende Kindheit als lebenspraktisch neutral zu betrachten.
b) Das "mitleidige Lächeln", das Hamburger anführt, mag das Element "spöttische Distanz" besitzen, aber diese besondere Verwendungsart dürfte kaum mit der Hauptbedeutung von "mitleidig" zusammenfallen, es handelt sich eher um ein Randphänomen in einer Skalierung von "compassion".
In seiner positiven Variante meint es eine leicht spöttische, aber doch explizite Aggression vermeidende Reaktion auf ein bestimmte Ansprüche verfehlendes Verhalten. Der eigentliche Gegenbegriff, den es zu bedenken gäbe, wenn man "mitleidig" verstehen will, dürfte wohl "mitleidlos" sein. Ein Lächeln allerdings hat eine niedigere Verletzungs-Stufe als das Verlachen, insofern ist eine gewisse Schonung impliziert. Inwiefern hier der Vollbegriff "Mitleid" passt, ist sehr die Frage.
c) Will man den Zusammenhang von Mitleid und anderen Affekten mit davon stimuliertem Verhalten beiseite schieben, so tut man sich schwer, rhetorische Effekte zu erklären. Man denke etwa an die Antonius-Rede in "Julius Caesar": In einem komplexen rhetorischen Programm erzeugt Mark Anton Trauer und Mitleid, indem er das mehrfach durchbohrte Gewand Caesars und dessen Leichnam dem Auditorum präsentiert. Fern von jeder Barmherzigkeit natürlich stimuliert er Wut, Rache und gewaltsame Aktion gegen die Verschwörer.
Man denke an "Onkel Toms Hütte" und ihren Einfluss auf die Gesetzgebung der USA. Sogar Brechts Aversion gegen den Katharsiseffekt lässt sich als ein Hinweis darauf lesen, wie sehr er etwa in der "Mutter Courage" dramenpraktisch seine eigenen Überlegungen unterläuft.
d) In der Ethologie und in der theory of mind laufen gewichtige Überlegungen zur evolutionären Disposition des limbischen Systems und seiner Affekte..., samt einem System von automatischen Reflexen und Feldern der Reflexion ...
Wir Menschen sind soziale Tiere, fähig sich in andere hineinzufühlen und hineinzudenken, verbunden durch gemeinsame Sympathie und gemeinsamen Nutzen. Und fähig dissozial zu agieren, verdeckt bis offen, zurückhaltend bis exzessiv.
(3) p.s.Lean on me (kitschig, bewegend, man teste sich selbst..)https://www.youtube.com/watch?v=sf9_lkf7BtAAntonius-Rede: Mitleid mit dem toten Caesar, Affektsturm und Handeln... (Man prüfe die drameninternen Reflexe und seine eigenen Reflexe und Reflexionen beim Hören der Rede..)http://www.schooltube.com/video/53efe6c2cf1bb89f9e82/Julius-Caesar-1953-Mark-Antony-speech(Marlon Brando 1953)
https://www.youtube.com/watch?v=0bi1PvXCbr8(Charles Heston 1970)