Thuk. 5.89-90

Für alle Fragen rund um Griechisch in der Schule und im Alltag

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Thuk. 5.89-90

Beitragvon Roxane » Do 17. Apr 2014, 10:01

Hier nun 5.89. Eine Revision hat natürlich Zeit, jetzt ist erst mal Ostern....

(89) Die Athener: „Wir persönlich wollen also weder mit schönen Worten eine lange Rede halten,
die unglaubwürdig wäre,
sei es (darüber), dass wir wegen der Vernichtung des Meders (/weil wir den Meder vernichtet hätten) verdientermaßen herrschten, sei es (darüber), dass wir wegen des erlittenen Unrechts (/weil wir Unrecht erlitten hätten) jetzt gegen euch vorgingen,
noch erwarten wir, dass ihr meint, (uns) für euch gewinnen zu können,
sei es dadurch, dass ihr sagt, ihr wäret, obwohl ihr Kolonisten der Lakedaimonier wart, nicht mit ihnen zusammen in den Krieg gezogen, sei es dadurch, dass ihr sagt, ihr hättet uns kein Unrecht getan;
wir sollten aber beabsichtigen, das, was möglich ist, im Rahmen dessen (wörtl.: von dem,...) zu erreichen, was wir beide (als) wahr (erkannt haben),
da ihr genauso gut wisst wie wir, dass zwar nach menschlichem Verständnis Gerechtigkeit bei Gleichheit der Zwangslage (evtl. Macht oder Kraft) entschieden wird, aber dass die Überlegenen das, was möglich ist, durchsetzen und die Machtlosen nachgeben.

(90) Die Melier: "Wie wir nun allerdings glauben, wäre es nützlich
- wir müssen nämlich, nachdem ihr (dazu) geraten habt, statt von Recht von Nutzen sprechen -,
dass ihr nicht den Vorteil, der allen gemein ist, vernichtet,
sondern dass ihr dem, der jeweils in Gefahr gerät, das Billige wie Gerechtes zuteil werden lasst
und ihm sogar einen Vorteil gewährt, wenn er jemanden von etwas, (was) innerhalb des strengen (Maßes/ Rechts sei) überzeugt hat.
Auch für euch wäre dieses nicht weniger wert, umso mehr als ihr, wenn ihr unterliegt, wegen der
härtesten Strafe für die anderen ein Beispiel werden könntet."
Zuletzt geändert von Roxane am Do 24. Apr 2014, 16:36, insgesamt 5-mal geändert.
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Re: Thuk. 5.89-90

Beitragvon Prudentius » Di 22. Apr 2014, 10:18

Hallo Roxane,

ich geh mal die Sätze durch, die Konstruktionen sind OK, aber stilistische Glättungen kann man anbringen, allerdings oft subjektiv, diskutierbar, es berührt aber letztlich doch das Sinnverständnis.

89

„Wir persönlich wollen also...


Persönlich passt nicht, sie sprechen nicht privat, sie trerten ja als die Herren der Situation auf; "Wir selber", Identitätspronomen, unterstreicht die Gegenüberstellung zu "euch".

"Wir wollen also": so sprechen bescheidene Leute, die sich zurücknehmen müssen; hier aber sprechen die Gerichtsherren, die nachher mit dem Knüppel herauskommen; also imperiales Futur, möchte ich sagen: "Wir selber werden..."

"sei es - sei es": einfach nur "oder"!

noch erwarten wir, dass ihr meint,


erwarten ist zu schwach: "fordern, verlangen wir"; und nicht das axiumen ist verneint, sondern das davon Abhängige; "und wir fordern, dass auch ihr weder...noch..."

(uns) für euch gewinnen zu können


"uns überzeugen zu können".

sei es dadurch, dass ihr sagt, ihr wäret, obwohl ihr Kolonisten der Lakedaimonier wart, nicht mit ihnen ...


arg verschachtelt, schwer durchzusteigen, vllt. "mit dem Argument, ihr seied als Kolonisten nicht mit in den Krieg..."

wir sollten aber beabsichtigen


das ist zu unverbindlich, zu schwach, denke an den Knüppel; den M. wird hier schon angedeutet, was ihnen "blüht", wie man sagt: "über das verhandeln" oder "das durchsetzen...".

Ich mache erstmal Schluss, es steckt aber noch viel in dem kompakten Kapitel, es lohnt sich, noch näher darauf einzugehen,

lgr. P. :)
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Re: Thuk. 5.89-90

Beitragvon Roxane » Di 22. Apr 2014, 14:49

Hallo Prudentius,

es freut mich, dass du gerade auf dieses Kapitelchen, das in unserer Zeit noch häufig herangezogen wird, so ausführlich eingehst. Für mich war es keineswegs einfach, den Sinn zu enträtseln. Immer und immer wieder habe ich mir einzelne Passagen durch den Kopf gehen lassen und - wie du wohl gemerkt haben wirst - meinen bereits eingestellten Übersetzungsversuch geändert.
Für uns Foristen ist es ja wirklich ein Segen, wenn ein "Nestor" wie du, der noch dazu mit soviel Herzblut bei der Sache ist, zur Seite steht. Was mir fehlt,ist häufig das Hintergrundwissen, weshalb ich mich wohl auch manchmal in der Wahl des richtigen Wortes vergreife. Aber ich arbeite daran und lese gerade sehr gerne darin:
http://www.zeno.org/Geschichte/M/Burckh ... hrhunderts
Der Melierdialog wird am hiesigen Gymnasium im 3. Griechischlernjahr übersetzt. Ich vermute, mit viel Unterstützung des Lehrers (übrigens ebenfalls einer, der völlig in seinem Fach aufgeht). Ob man den schwierigen Text den Schülern überhaupt zumuten sollte, sei dahingestellt. Schließlich brauchen Leistungskursler Übersetzungspraxis noch und nöcher, um im Abi zu bestehen. Und da dürfte wohl der knifflige Thukydides zur Übung nicht unbedingt erforderlich sein. Für mich ist er ja eigentlich auch nicht ganz das Richtige, aber einmal angefangen, werde ich nun versuchen, damit durchzukommen.
Bevor ich wieder ein Kapitel einstelle, überlege ich mir aber demnächst erst einmal genau, ob es die endgültige Fassung sein soll....

Bis dahin!
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Re: Thuk. 5.89-90

Beitragvon Prudentius » Mi 23. Apr 2014, 08:22

Hallo Roxane,

lass dich nur nicht abschrecken, es ist ein großer Sprung von Xenophon zum Melierdialog, freu dich, wenn du etwas dazulernen kannst!

In 89 ist schon die Kernaussage des ganzen enthalten, die Definition von Machtpolitik im Verhältnis zum Recht; am Ende: "Nach dem Recht geht es nur unter Gleichrangigen; ansonsten hat der Stärkere freie Hand".

Es gibt seit jeher viel darüber zu diskutieren, es gibt Verbindungslinien Machiavelli - Nietzsche - Hitler ...

Der Text ist hintergründig: wenn du liest: "Wir wollen keine langen Reden halten", da denkt man, er spricht über Sprache und Stil, also über Modalitäten der Verhandlungsführung; aber wenn du weiterliest, dann kommt es ganz anders: er will damit die Berufung auf rechtlich-moralische Argumente ausschließen.

Und dann wieder: das "Mögliche" billigt man dem Stärkeren zu; was klingt das harmlos! Aber wenn du den Abstraktbegriff ins Konkrete umsetzt, in die Kriegssituation, dann ist damit gemeint: Nötigung, Ausplünderung, Versklavung. Massaker, Kriegsverbrechen.

Und dann auch "Wissende zu Wissenden", epistamenus pros eidotas, perfekte Einigkeit im Wissen also, aber totaler Gegensatz in den Rollen, die sie zu spielen haben: die Opfer und die Vollzieher von Gewalt.

Auch in der Schlussformel: ein Parallelismus, wie er untypisch für Th. ist: die einen üben das Mögliche aus, die anderen dulden es. Aber eine schrille Diskrepanz in den Rollen, die beide Seiten zu spielen haben.

Mir fällt immer noch mehr dazu ein,
erstmal lgr. P. :)
Prudentius
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Re: Thuk. 5.89-90

Beitragvon Roxane » Mi 23. Apr 2014, 22:08

Da sprudelt es ja schon morgens kurz nach sieben nur so aus dir heraus, Prudentius! Eigentlich ist es schade, dass du nicht etwas zu dem Thema publizierst, vielleicht in einer Fachzeitschrift.
Auch wenn Thukydides mich manchmal überfordern mag, soll mich das nicht hindern - erst recht nach deiner Ermunterung - lustig weiter zu machen. Außerdem: Wenn Frauen sich einmal etwas in den Kopf gesetzt haben....Da dein ersehnter Regen das Unkraut wachsen lassen hat, bin Ich aber noch nicht weiter als 5.91, einem Kapitel, das gar nicht mal schwierig war.
Kurz korrigieren muss ich noch dieses: Der Melierdialog wurde am hiesigen Gymnasium zu Zeiten des G 9 erst im vierten Lernjahr durchgenommen, nach zwei Jahren <Hellas> und ausgewählten Texten diverser anderer Schriftsteller.

Bis bald!
Roxane
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Re: Thuk. 5.89-90

Beitragvon Prudentius » Do 24. Apr 2014, 08:23

Zu 89 sprudelt es immer noch mehr heraus,

dass wir wegen der Vernichtung des Meders (/weil wir den Meder vernichtet hätten) verdientermaßen herrschten


das ist eine Anspielung an die patriotische Geschichtsversion des perikleischen Athens, wie wir sie bei Herodot lesen können, er hat ja die Perserkriege dargestellt; der Vorgänger des Thukydides.
Ü: "weil wir dem Meder eine vernichtende Niederlage zugefügt hätten"

dass wir wegen des erlittenen Unrechts (/weil wir Unrecht erlitten hätten) jetzt gegen euch vorgingen,


Anspielung an die aktuelle Kriegspropaganda.

dadurch, dass ihr sagt, ihr wäret, obwohl ihr Kolonisten der Lakedaimonier wart, nicht mit ihnen zusammen in den Krieg gezogen, sei es dadurch, dass ihr sagt, ihr hättet uns kein Unrecht getan;


Der Athener nimmt hier ein Argument vorweg, das voraussichtlich die M. gebrauchen würden; es handelt sich um ein Rhetorik-Stilmittel, prolepsis/anticipatio, mit dem der Redner versucht, der Gegenpartei den rettenden Strohhalm aus der Hand zu nehmen. Im D. ungefähr so: "Kommt uns nur nicht damit...".

"Wissende zu Wissenden", epistamenus pros eidotas, Stilmittel Inkonzinnität, variatio, Vermeidung des Gleichklangs, holpriger Stil.

Am Schluss "die Überlegenen - die Schwachen": der Redner ist so vornehm :-D , nicht direkt auszusprechen, wer was ist.

Dann komm ich aber doch zu 90,


lgr.P. :)
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Re: Thuk. 5.89-90

Beitragvon Prudentius » Fr 25. Apr 2014, 09:37

Noch zu 89, Schluss:
"die Überlegenen - die Schwachen": Stilmittel Inkongruenz; normal wäre: "die Überlegenen - die Unterlegenen" oder "die Starken - die Schwachen".

90

nachdem ihr (dazu) geraten habt


das ist zu sanft ausgedrückt :-D , sie sind die Herren der Situation (wie gesagt), die Gerichtsherren, sie haben das Todesurteil gegen die M. in Ihrem Aktenkoffer, sozusagen. hypothesthai, daher die Hypothese: das, was man voraussetzt, wovon man ausgeht: "nachdem ihr gefordert habt, als Grundforderung aufgestellt habt, von dem Grundsatz ausgeht".

den Vorteil, der allen gemein ist,


Vorteil passt nicht gut, agathon ist der oberste Moralbegriff; vllt. "Allgemeinwohl"; katalyein abschaffen, aufheben, beseitigen.

Bis bald,
lgr. P. :)
Prudentius
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Re: Thuk. 5.89-90

Beitragvon Roxane » Fr 25. Apr 2014, 20:00

Danke für deine Anregungen, Prudentius, die wie immer hilfreich waren.

Manchmal weiß man wirklich nicht, wie es Thukydides denn gerne hätte. Vielleicht wären ja auch noch alternative Lösungen akzeptabel gewesen, etwa diese, die mir ebenfalls durch den Κopf gingen:

ἀληθῶς „das Mögliche von dem, was beide Seiten tatsächlich (denken)“
τῷ ἀνθρωπείω λόγῳ „so sagen es die Menschen (wörtl.: nach menschlichem Wort)“

Den Kernsatz des Abschnittes 5.89 gibt alle Welt bis heute unterm Strich etwa so wieder:
<Der Mächtigere setzt sich durch.> Tatsächlich ist im Text aber die Rede von ή ἴση ἀνάγκη, ein
Blick ins Wörterbuch zeigt, dass „Macht, Kraft“ nur eine Bedeutung unter „ferner liefen“ ist.
„Zwangslage, Bedrängnis“ wäre eigentlich die korrekte Wiedergabe, für „Macht“ jedoch kennt der
Grieche zahlreiche andere Wörter.
In die Irre geführt hat mich in Abschnitt 5.90 das εἰκότα καὶ δίκαια, das – so meinte ich – immer in
einem Zug genannt wird. Andererseits muss ja das, was allgemein gebilligt wird, nicht unbedingt
rechtens sein und umgekehrt. Schließlich habe ich das καὶ mit „wie“ wiedergegeben. Andere Möglichkeit: "das, (was) billig (ist) auch als Gerechtes..."

Vllt. besser: "...und ihm auch einen Vorteil innerhalb des strengen Rechts gewährt, wenn er jemanden überzeugt hat."

Wenn Thukydides es den Lesern mit seiner Lektüre absichtlich nicht so einfach machen wollte, dann hat er es bei mir auf jeden Fall geschafft....

Soviel dazu, jetzt erst mal ein schönes WE!
Roxane

PS.: Weißt du zufällig, wo genau die betreffende Herodot-Stelle zu finden ist?
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Re: Leichtere Kost

Beitragvon Prudentius » So 27. Apr 2014, 08:16

Weil Sonntag ist, tische ich auch mal leichtere Kost auf:
Die kleine Kykladeninsel Melos zog auch ein zweites Mal die Aufmerksamkeit der Welt auf sich, dort wurde im 19. Jh. eine berühmte Statue gefunden, ein Torso, die "Venus von Milo", wie man sie nannte, heute im Louvre zu bewundern, sie galt lange Zeit als Verkörperung des klassischen Schönheitsideals und wurde viel berwundert.
Der Name Milo ist die ital. Form von Melos, denn die Insel lag an dem ma. Verkehrsweg von Europa in den Orient, auf dem auch die Kreuzzüge fuhren; es ging an der Ostküste der Adria südwärts und dann über die Inseln Kreta - Rhodos - Zypern ("Inselspringen"). Die Venezianer beherrschten diesen Verkehrsweg und besetzten wichtige Stellungen, so gut sie konnten. Daher finden sich auch solche italienischen Namen; "Montenegro" ist vllt. am bekanntesten.

Schönen Sonntag!
lgr. P. :)
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Re: Thuk. 5.89-90

Beitragvon Roxane » So 27. Apr 2014, 10:02

Ja, genau dort wird es eng im Louvre, vor der schönen Venus! Dabei finde ich den Codex Hammurabi einige Räume weiter viel interessanter. Kannst du etwa auch italienisch, Prudentius?

Unterdessen komme ich immer noch nicht von 5.89/90 los.
Mein (hoffentlich) letzter Versuch:

(89) "... dass im menschlichen Verkehr Gerechtigkeit (nur zwischen Staaten) geurteilt werden kann (wörtl.: wird), (die sich) in einer gleichen Zwangslage (befinden)/auf die der gleiche Zwang ausgeübt werden kann."

(90) "...sondern dass ihr einem, jedesmal wenn er in Gefahr gerät, sogar einen Vorteil gewährt, wenn er jemanden von etwas überzeugt hat, (das) innerhalb des strengen Rechts (liegt)."
oder:
"...sondern ....gerät, sogar einen Vorteil innerhalb des strengen Rechts gewährt, wenn er jemanden um etwas gebeten hat."

Ich wüsste nicht, was an diesen beiden Möglichkeiten falsch sein könnte. In etlichen Übersetzungen geht es allerdings so weiter:.. <auch wenn er hinter dem strengen Gesetz zurückbleibt>
Das kann ich nicht nachvollziehen, denn ἐντὸς bedeutet eindeutig diesseits, innerhalb und nichts anderes. Da können die anderen schreiben, was sie wollen! Wie kommen die nur darauf, ich kann es mir wirklich nicht erklären.....

Sonnigen Sonntag!
Roxane

PS: Aber jetzt, ehe der Tag zu Ende geht, noch dies: πείσοντα ist Part. Fut., daher

"... , dass ihr ihm sogar einen Vorteil gewährt, wenn er jemanden von etwas, (was angeblich) innerhalb des strengen Rechts (liegt), überzeugen will."
bzw:
"...,dass ihr ihm sogar einen Vorteil innerhalb des strengen Rechts gewährt, obwohl er jemanden täuschen will."

d.h. er hat sich nicht (!) innerhalb des strengen Rechts bewegt, sondern er ist eigentlich <hinter dem strengen Gesetz zurückgeblieben>, sonst müsste er nicht noch jdn. überreden oder überzeugen oder gar täuschen.

noch ein Nachtrag (heute ist schon Montag): Bei Kühner habe ich mich vergewissert, dass man das Futur auch mit <können> wiedergeben kann. Das hielte ich für perfekt! Also:

",...wenn er überzeugen kann." oder
",...obwohl er täuschen kann."

Abgehakt!
Roxane
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Re: Thuk. 5.89-90

Beitragvon Prudentius » Mo 28. Apr 2014, 09:50

Manchmal weiß man wirklich nicht, wie es Thukydides denn gerne hätte.


Das liegt wohl daran, dass wir es hier mit Diplomatensprache zu tun haben, es ist dolppelbödig, man muss unterscheiden, was vordergründig gesagt ist und was unverblümt gemeint ist; die Athener kommen mit der Forderung, die Melier sollten dem Seebund beitrreten und ihrer Mutterstadt Sparta den Krieg erklären, sie tun aber vornehm und sagen es nicht; und die M. sind in der Zwangslage, dass ihr einziges Argument, der Appell an Recht und Moral, ihnen schon vorher aus der Hand genommen wurde: "Kein dummes Geschwätz!". Sie sind also zu einem geistigen Slalom gezwungen, sie müssen lauter Verkrümmungen machen, sind aber so geschickt, dass sie die Sache hinbekommen: das Thema Recht und Moral herzubringen, sie bedienen sich als Brücke des Begriffs des Nützlichen (chresimon, xympheron): der Begriff des Nutzens ist auch für den Mächtigen relevant.

ἀληθῶς „das Mögliche von dem, was beide Seiten tatsächlich (denken)“


Die A. wollen hier nicht die jeweils unterschiedlichen Rechtsauffassungen bezeichnen, sondern sie unterstellen eine gemeinsame Überzeugung, nämlich das Prinzip des Rechts des Stärkeren, ein dezenter Hinweis für die M., was hier von ihnen erwartet wird.

τῷ ἀνθρωπείω λόγῳ „so sagen es die Menschen (wörtl.: nach menschlichem Wort)“


"nach (allgemein)menschlicher Überzeugung", betont die Verbindlichkeit des Machtprinzips; wieder ein Hinweis mit dem knöchernen Finger an die M.

"entos tu akribus", das akribes wird hier als Moralbegriff verwendet; das ist wieder eine solche Verkrümmung, zu der die M. gezwungen sind aufgrund der Auflage, die die A. ihnen gemacht haben.

Also soll es genug sein!

lgr.P. :)
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Re: Thuk. 5.89-90

Beitragvon Roxane » Di 29. Apr 2014, 10:41

Für deine Hinweise bin ich dir dankbar, Prudentius. Es ist wirklich nicht einfach, den Text angemessen wiederzugeben. Auf <nach menschlicher Überzeugung> etwa wäre ich nicht gekommen, es gibt ja so viele Möglichkeiten. Tröstlich für mich ist, dass sich Landmann, Gottwein, Classen keineswegs immer einig sind...
Ein paar Kleinigkeiten sind in der korrigierten Version nach <Pape>-durchsicht noch geändert.

Einen schönen Tag!
Roxane
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