Anab. I. 9.22 (Opt.iter./Opt.obl.)

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Anab. I. 9.22 (Opt.iter./Opt.obl.)

Beitragvon Roxane » Fr 17. Jan 2014, 12:58

Ein Optativ Präsens ohne ἄν bereitet mir Schwierigkeiten:

ταῦτα δὲ πάντων δὴ μάλιστα τοῖς φίλοις διεδίδου, πρὸς τοὺς τρόπους ἐκάστου σκοπῶν καὶ ὅτου μάλιστα ὁρῴη ἕκαστον δεόμενον.

<Diese (Geschenke) aber übergab er am allerliebsten den Freunden, wobei er auf den Charakter eines jeden achtete, und er dürfte auch gesehen haben, was ein jeder am allermeisten brauchte.>

Nun lese ich, dass der potentiale Optativ ohne ἄν bei Homer noch üblich war, später aber mit ἄν zur festen Regel wurde.

Wir könnten es auch mit einem iterativen Optativ zu tun haben, aber <...und sooft er sah> macht keinen Sinn.

Weiß jemand Rat?
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Re: Anab. I. 9.22

Beitragvon Medicus domesticus » Fr 17. Jan 2014, 19:07

Hallo Roxane,
Ich gehe da am ehesten von einem Optativus obliquus aus.
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Re: Anab. I. 9.22

Beitragvon Glis » Fr 17. Jan 2014, 23:11

Hallo Roxane,
ein iterativer Optativ scheint mir hier am nächstliegenden: Dass Kyros Geschenke an seine Freunde übergab, hat sich ja wohl häufig wiederholt. Bei iterativem Sinn wunderst du dich über ein "sooft". Ein solches ὁπότε wie in den Beispielsätzen unserer Grammatik findet sich hier aber nicht. In unserem Satz steht, abgesehen von καὶ, gar keine Konjunktion, die eine temporale Sinnfärbung vornehmen würde. In Konditionalsätzen mit iterativem Sinn zum Beispiel braucht es so eine Konjunktion aber auch nicht bzw. wird das durch ἐάν/εἰ mit ausgedrückt (siehe Hellas-Grammatik, § 97.5).
Da wäre meine Anschlussfrage: Müsste einem iterativen Optativ, der nicht gerade in ein Konditionalgefüge eingebunden ist, denn immer eine Temporalkonjunktion vorausgehen? Müsste er also immer in einem untergeordneten Nebensatz stehen? Wenn nicht, könnte man hier (etwas umständlich) so übersetzen: "und er pflegte zu sehen ..." Woraus man einfach machen könnte: "und er sah immer ...".
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Re: Anab. I. 9.22

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 18. Jan 2014, 11:04

Oh ja, Glis hat recht. Oblativus obliquus ist es hier nicht, da habe ich zu wenig hingeschaut. Ich denke auch, dass es ein iterativer Optativ bei übergeordneten Nebentempus διεδίδου ist. Im Kühner vergleichbar mit § 399,4 a) : http://tinyurl.com/oy5h7rr .
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Re: Anab. I. 9.22

Beitragvon Prudentius » Sa 18. Jan 2014, 11:05

Hallo alle zusammen,

und er dürfte auch gesehen haben,


da ist was schief gelaufen, du hast ja hier einen Hauptsatz, und damit bist du "aus der Konstruktion gefallen", wie man sagt; du hast einen Relativsatz vor dir, eingeleitet durch ὅτου.

πρὸς τοὺς τρόπους ἐκάστου σκοπῶν καὶ ὅτου μάλιστα ὁρῴη ἕκαστον δεόμενον.


Das σκοπῶν hat zwei Zielangaben bei sich, durch kai verbunden, einmal die präpositionale Wendung "auf den Charakter eines jeden", und dann relativisch "(auf das), was er sah, dass jeder einzelne es besonders nötig hatte", im D. tun wir uns hier schwer, lieber etwas freier: "auf das, was jeder am meisten brauchte".

Ein Tip, um die Bedeutung des Optativs zu ergründen, wenn man sich erst in den Satz hineintastet: Schaut nicht nur auf die Verbform alleine, nicht bloß auf Optativbedeutungen, sondern geht vom Satzaufbau insgsamt aus, blickt auf die "Syntax"!

Ihr findet diesen Opt. in den Grammatiken allgemein unter "Konditionalsätzen", Sparte "iterativer Fall der Vergangenheit", hier aber unter "Ralativsätze", die auch nach dem Muster der Konditionalsäze gebildet werden. Das Iterative leuchtet hier ein, es wird ja eine Verhaltensnorm beschrieben, an die er sich in der Regel hielt.

Weiterhin viel Spaß bei der Sache,

lgr. Euer P. :)
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Re: Anab. I. 9.22

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 18. Jan 2014, 11:07

Das war fast gleichzeitig, Prudenti.
Ich habe oben gerade entsprechenden Paragraphen bei Kühner gefunden.
Medicus domesticus hat geschrieben:Oh ja, Glis hat recht. Oblativus obliquus ist es hier nicht, da habe ich zu wenig hingeschaut. Ich denke auch, dass es ein iterativer Optativ bei übergeordneten Nebentempus διεδίδου ist. Im Kühner vergleichbar mit § 399,4 a) : http://tinyurl.com/oy5h7rr .
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Re: Anab. I. 9.22

Beitragvon Roxane » Sa 18. Jan 2014, 20:16

Wie schön, dass es dieses wunderbare Forum gibt! Nicht nur, dass sogleich Hilfe von allen Seiten kommt, ihr wisst auch noch, welche Grammatik ich zu benutzen pflege (iterativ!).

Mein fataler Fehler: Das ὅτου habe ich in meiner Übersetzung völlig außer Acht gelassen. Jetzt sehe ich schon deutlich klarer, die Stellen in der Hellas- bzw. Kühnergrammatik nehme ich mir sogleich noch mal vor.

Natürlich macht Griechisch so wieder Spaß!
Habt ein wunderschönes Wochenende!
Roxane
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Re: Anab. I. 9.22

Beitragvon Roxane » So 19. Jan 2014, 15:49

So, nun habe ich noch etwas gefunden, und zwar bei Kühner:

§ 560: Das Relativ ohne ἄν wird mit dem Optativ verbunden .... wie ἄν mit Konjunktiv, ...aber ...bei öfter wiederkehrenden Fällen (vgl. § 399, 3-5)...oft wie εὶ mit Optativ.

§ 575 b: Statt ἐάν mit Konjunktiv tritt, wenn im Hauptsatz ein historisches Tempus steht, εἱ mit Optativ ein in der Bedeutung "jedesmal wenn. Man spricht in diesem Fall von einem Optativus iterativus.
...nur wenig unterschieden ist ... εἱ mit dem iterativen Optativ von ὅτε und ὁπότε.

Tschüß
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Re: Anab. I. 9.22

Beitragvon Roxane » Di 21. Jan 2014, 10:50

Sicher schadet eine kurze Zusammenfassung nicht:


Der OPTATIVUS ITERATIVUS
steht in Νebensätzen, und zwar

- in Konditionalsätzen (εἱ),
wenn das übergeordnete Verb im Imperfekt oder Plusquamperfekt steht

- in Temporalsätzen (ὀποτε),
wenn das übergeordnete Verb in einem Tempus der Vergangenheit steht.

- in Relativsätzen (ὅστις).


Der OPTATIVUS OBLIQUUS
steht in Nebensätzen, und zwar

- statt Indikativ in abhängigen Aussagesätzen (ὅτι, ὡς),
wenn das übergeordnete Verb in einem Tempus der Vergangenheit steht

- statt Indikativ in abhängigen Fragesätzen

- statt Konjunktiv in abhängigen Begehrsätzen
nach Verben des Fürchtens und Ausdrücken des Besorgtseins

- statt Ind. Fut. in abhängigen Begehrsätzen
nach Verben des Sich-Bemühens, Sorgens und Sich-Hütens (ὅπως)

- statt Indikativ in Kausalsätzen (ὅτι, ὡς, ἐπεί, ἑπειδή),
wenn das übergeordnete Verb in einem Tempus der Vergangenheit steht

- statt Konjunktiv in Finalsätzen (ἵνα, ὅπως, ὡς),
wenn das übergeordnete Verb in einem Tempus der Vergangenheit steht

- statt Indikativ in der Oratio obliqua
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Re: Anab. I. 9.22

Beitragvon Glis » Di 21. Jan 2014, 17:58

EIne tolle Zusammenfassung, Roxane. Danke für die Zusammenstellung.
Werde ich mir ausdrucken und ins Lehrbuch einlegen.

Bis bald!
Gl.
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