Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

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Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Glis » Sa 23. Nov 2013, 20:35

Liebe Kenner des antiken Ägäis-Idioms,

folgende Textstelle, worin es um das Ansehen von Kyros zu seinen Lebzeiten geht (Xen. Anab. 1.9.12):
καὶ γὰρ οὖν πλεῖστοι δὴ αὐτῷ ἑνί γε ἀνδρὶ τῶν ἐφ᾽ ἡμῶν ἐπεθύμησαν καὶ χρήματα καὶ πόλεις καὶ τὰ ἑαυτῶν σώματα προέσθαι.

Mich beschäftigt das αὐτῷ ἑνί γε ἀνδρὶ. Ich habe ἑνί γε ἀνδρὶ als nachgetragene Umschreibung von αὐτῷ verstanden, also: "ihm, gewiss einem Mann unter den Zeitgenossen" oder "ihm gewiss als einzigem Mann unter den Zeitgenossen".

Mein Versuch, möglichst nah am Original:
"Denn sehr viele wünschten nun, ihm als wohl einzigem Mann unter den Zeitgenossen Besitztümer, Städte und auch ihre eigenen Körper anzuvertrauen."

Die online zugänglichen Übersetzungen übertragen syntaktisch sehr frei, finde ich.
Von Max Oberbreyer wurde der Dativ-Cluster wohl so ähnlich verstanden wie von mir (Text nach Projekt Gutenberg):
"In unserer Zeit ist er daher auch wol der einzige Mann, dem so viele Menschen Schätze, Städte und ihre eignen Personen anvertrauten."

Anders Carleton L. Brownson in "Xenophontis opera omnia", Vol. 3. Oxford,1904 (nach Perseus):
"Hence it was that he had a greater following than any other one man of our time of friends who eagerly desired to entrust to him both treasure and cities and their very bodies."

Unser Angelsachse scheint ἑνί γε ἀνδρὶ als komparativ zu αὐτῷ verstanden zu haben.
Die Grammatik von Bornemann/Risch kennt tatsächlich einen komparativen Dativus differentiae, die dortigen Beispiele betreffen allerdings Maßzahlen, bei denen eine Differenz sich mit "um wie viel?" erfragen lässt.

Was meint ihr?

Beste Grüße!
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Re: Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Medicus domesticus » Sa 23. Nov 2013, 23:37

Hallo Glis,
Ich kann nur sagen, dass deine Übersetzung richtungsweisend für deine Frage ist. Sie ist nämlich korrekt so.. :-D
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Re: Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Glis » So 24. Nov 2013, 10:21

Das ist doch schon mal was, Medicus. Danke fürs Draufschauen.
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Re: Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Prudentius » So 24. Nov 2013, 10:47

Mir ist auch noch was aufgefallen, du solltest den Gegensatz πλεῖστοι ... ἑνί γε ἀνδρὶ erkennen: "Ganz viele Leute waren begierig, ihm, einem einzelnen Mann, ...". Es ist ein prädikativer Zusatz zu αὐτῷ, wie das bei solchen Ordnungsbegriffen wie "einer - viele", der erste, letzte usw. nicht selten ist. Es ist ein ganz normales Dativobjekt zu προέσθαι, da brauchst du nicht nach besonderen Dativ-Bedeutungen zu suchen!

"Ï„á½° ἑαυτῶν σώματα προέσθαι" heißt wohl soviel wie "ihr Leben hinzugeben".

lgr. P. :)
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Re: Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Medicus domesticus » So 24. Nov 2013, 12:05

In manchen Ausgaben wird es als Einschub mit Kommas getrennt:
...αὐτῷ, ἑνί γε ἀνδρὶ τῶν ἐφ᾽ ἡμῶν,....
Pape führt die Stelle unter εἷς auf [*]:
Pape, Seite 738 hat geschrieben:Auch πλεῖστοι δὴ αὐτῷ ἑνί γε ἀνδρὶ τῶν ἐφ' ἡμῶν ἐπεϑύμησαν χρἠματα προέσϑαι, Xen. An. 1, 9, 12, ihm dem einen Manne....

[*] http://tinyurl.com/o35et5k
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Re: Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Sokrates » So 24. Nov 2013, 14:05

Χαίρετε,

Ja, im Grunde ist dieser "Klumpen" nicht wild, aber Folgendes:

Das Pronomen ist ganz gewöhnliches indirektes Objekt, das wie im D im Dativ steht, ein dativ. differentiae bedürfte einer komparativen Konstruktion, die hier eindeutig fehlt.
Die syntaktische Funktion ist keinesfalls die der Apposition, also des epexegetischen Attributs, sondern es handelt sich um eine Adverbiale in Form eines substantivischen Prädikativums, also nicht: ihm, dem einzigen Mann, (denn dann wäre er der einzige, der da wäre!), sondern ihm als dem einzigen (von allen, denen man theoretisch vertrauen könnte). Somit wird seine Sonderstellung herausgestellt, wobei man die Numerale wahlweise mit als (dem) einen (im D mit, ihm Gr aufgrund der Funktion natürlich ohne Artikel, cf. Bornemann-Risch § 149, 1) oder etwas mehr in Richtung "Singularität" mit als dem einen=einzigen übersetzen könnte.
Das γε ist hier sicherlich als hervorhebende Partikel verwandt, denn es ist ja betonenswert, wenn man lediglich einer Person das Vertrauen schenkt, also "gewiss, in der Tat".
Schwieriger wird es mit den anderen Angaben. Der das Subjekt ist hier gebraucht als ein Superlativ, also die meisten, der größte Teil, die breite Mehrheit. Fast schon intuitiv neigt das G dazu, dann auch die Gesamtmenge, aus der sich ein Teil durch die am höchsten vorhandene Eigenschaft auszeichnet, im genitivus partitivus als Attribut beizufügen. Und tatsächlich liegt ein solcher Genitiv in τῶν ἐφ῾ ἡμῶν vor.
Dieses Bezugsmengenattribut bezieht sich wohl am ehesten auf den Superlativ, der, wenn er ohne eine solche Angabe stünde, meinem (persönichen!) Gefühl nach eher artikuliert erschiene.
Natürlich könnte der Genitiv im Grunde auch von dem "einzigen" abhängen, nur spricht neben dem fehlenden Artikel auch die Tatsache, dass ein Superlativ stärker nach einem gen. part. verlangt als ein Zahlwort (auch wenn "einer" mengenmäßig im Prinzip auch ein Superlativ ist, erst recht, wenn man mit "einziger" übersetzt) und die inhaltliche Gewichtung (die meisten von denen zu unserer Zeit, man bedenke wer da auktorial erzählt!, eher als "ihm als dem einzigen Mann von denen zu unserer Zeit, das wäre ja ein gewaltiges Misstrauen, wenn man die ganze Welt beargwöhnt ;) ) für einen Bezug zum zugegeben entfernt stehenden Subjekt, wobei die Distanz nur durch die Erweiterung des Objekts zustande kommt.
Scheinbar übersetzen auch Walter Müri ("Ihm, dem einen Mann hat denn auch die größte Zahl unserer Zeitgenossen..." und Helmut Vrestka (" Daher wollten auch die meisten unserer Zeitgenossen ihm als einzigem Menschen...") in diese Richtung.
Das δή übrigends auch klar expressiv, also wahrlich die meisten, die allermeisten, die große Masse.

So viel meine subjektiven Einschätzungen, vielleicht finden andere anderes,

LG
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Re: Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Medicus domesticus » So 24. Nov 2013, 14:13

Ich stelle immer wieder fest, Sokrates, dass du das, was ich mir nur verkürzt über den Sachverhalt denke, ausführlich darstellst. Ich denke, du bist ein geborener Philologe! :-D
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Re: Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Sokrates » So 24. Nov 2013, 14:18

o carissime tu medice domestice, ich danke dir für die warmen Worte :D
Freilich, sofern sie als solche zu verstehen sind, denn zu viel ist nicht immer gut, wie man sagt. Aber ich bemühe mich in Zukunft um eine knappere Darstellung, nur war der Originalbeitrag deutlich länger :lol:

LG Sokrates
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Re: Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Glis » So 24. Nov 2013, 21:38

Schönen Dank, Prudentius, für den nützlichen Fingerzeig, und besondere Anerkennung dir, Sokrates, für deine wohlabgewogene Auslegung.
Man sieht, dass vermeintlich "kanonische" Übersetzungen aus der Hochzeit der klassischen Philologie (cf. Brownson) auch mal danebenliegen können.
Sehr lesenswert fand ich deinen Hinweis, Sokrates, auf den "natürlichen" Magnetismus zwischen Superlativ und Genitivus partitivus. Die Erinnerung daran wird mir auch an anderer Stelle helfen.

Beste Grüße!
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Re: Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Glis » So 24. Nov 2013, 22:06

Lasst mich noch dies hinzufügen: Ich pflege meine eigene - in der Zurückgezogenheit der bankenstädtischen Dachstudierstube angefertigte - "Anabasis"-Übungsübersetzung kontrollhalber mit der ollen von Brownson abzugleichen. Wenn jemand eine zuverlässigere oder, was für mich als Lernenden von Belang ist, sich enger an den Originaltext haltende Übersetzung weiß, die online zugänglich ist, so gerne her damit.
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Re: Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Prudentius » Mo 25. Nov 2013, 17:37

Ich füge dann auch noch hinzu: der "Dativklumpen" soll nicht so stehenbleiben, das ist zu lieblos bezeichnet, es soll "erweitertes Dativobjekt" oder "um ein Prädikativum erweitertes Dativobjekt" heißen.

Denkt auch daran, sowohl πλεῖστοιals auch ἑνί stehen ohne Artikel, dann ist also ersteres nicht echter Superlativ, und letzteres nicht "der einzige", sondern "ein einzelner". Denn der echte Superlativ drückt Bestimmtheit aus, "die größte einstellige Zahl" bezeichnet eine Grenze, die neun, Grenze ist per se etwas Bestimmtes. Also heißt πλεῖστοι "sehr viele".

"natürlichen" Magnetismus zwischen Superlativ und Genitivus partitivus.


oder sollte man lieber von "logischem" Magnetismus reden: wenn Superlativ Grenze bedeutet, dann geht es nicht ohne die Angabe ab: Grenze wovon? Maxima pars sagt gar nichts, maxima pars hominum muss es heißen.
"Sehr viele unserer Zeitgenossen", so sollten wir verbinden.

lgr. P. :)
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Re: Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Sokrates » Mo 25. Nov 2013, 19:44

Χαίρετε,

sehr schön, unser Klumpen hat sich in ein elegantes Syntagma gewandelt, bravo :D

Nota bene: Sowohl der Superlativ als Subjekt als auch das Zahlwort sind genau so auch zu übersetzen, wenngleich andere Deutungen durchaus auch ihre Berchttigungen haben, ein Artikel ist in beiden Fällen grammatisch nicht notwendig (wenigstens bei diesen beiden expliziten Beispielen!!), um diese singulär-superlativische Semantik zu entfalten!

LG
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Re: Frage zu Dativ-Klumpen in "Anabasis"

Beitragvon Glis » Mo 25. Nov 2013, 23:07

Versprochen, ich beleidige nie wieder einen Dativ.
Werde mich dafür an die schwer zugänglichen Formen des Verbs ὄλλυμι/-μαι halten (an irgendwem muss man seine Wut ja auslassen).
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