Zeitliche Einstufung des Partizips Aorist im Griechischen

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Zeitliche Einstufung des Partizips Aorist im Griechischen

Beitragvon Glis » So 10. Nov 2013, 02:02

Darüber haben wir uns beim Übersetzen der „Hellas“-Lektionen immer wieder den Kopf zerbrochen.

Angeregt durch die Diskussion zu Lektion 127 habe ich nun alle Grammatiken durchstöbert, die mir zur Verfügung stehen – darunter auch eine englischsprachige.
Unten habe ich die einschlägigen Stellen zusammengestellt.
Man sieht: Die Schwerpunkte sind recht unterschiedlich gesetzt.
(Bei Bornemann/Risch und Coderch habe ich nicht alle Beispielsätze aufgeführt, sondern nur die mir besonders interessant erscheinenden. Auf Hervorhebungen und genaue Quellenangaben habe ich beim Abtippen außerdem verzichtet.)

Aufschlussreich: Den Hinweis, dass das Part. Aor. nach finitem Verb „in der Regel“ einen modalen Vorgang angebe, hat die „Hellas“-Grammatik exklusiv für sich.
Besonders aufschlussreich: Im Beispielsatz aus der Langenscheidt-Kurzgrammatik haben wir genau so einen Fall, wo das Part. Aor. nach dem finiten Verb steht. Wollte der unbedarfte Anfänger hier nach dem „Hellas“-Grundsatz vorgehen, käme er wohl kaum zu einem sinnvollen Ergebnis. (Da ich als blutiger Laie den Themenkomplex kaum überblicke, will ich damit aber keineswegs gesagt haben, der „Hellas“-Grundsatz sei Unsinn.)

Sonderhinweis für Roxane und Prudentius: Bornemann/Risch liefern ein Beispiel mit γενομένων (s. u.), genau das Verb, das uns in Lektion 127 vor die Nase gekommen ist, wenn auch mit anderem Kontext.

Wem's Spaß bringt, dem wünsche ich viel Spaß beim Vergleichen.

Ahoi!
Gl.


„Hellas – Griechische Grammatik“, 2. Aufl. 2012, S. 180:

„1) Ἀνθρώποις καλὰ πράξασι Ζεὺς ἐπέτρεψε θεοῖς γίγνεσθαι. – Weil Menschen Gutes getan hatten, erlaubte ihnen Zeus, Götter zu werden.
2) Ὁ Ἀγαμέμνων τὴν Ἰφιγένειαν ἔθυσε δακρύσας. – Agamemnon opferte die Iphigenie unter Tränen / wobei er weinte.

Das Partizip Aorist lässt den Vorgang, den es beschreibt, gegenüber dem Vorgang des regierenden Satzes zumeist als abgeschlossen erscheinen; es kennzeichnet somit in der Regel die Vorzeitigkeit; im Partizip Aorist kann gelegentlich auch der Eintritt einer Handlung als abgeschlossen gekennzeichnet sein (1).
Das Partizip Aorist gibt, wenn es vor dem Verbum finitum steht, in der Regel einen vorzeitigen, wenn es danach steht, einen gleichzeitigen (und zwar modalen) Vorgang an. (2)“


„Ars Graeca – Griechische Sprachlehre", 4. Aufl. 1981, S. 196:

„b) Partizip des Aorist: zur Zeit der übergeordneten Handlung abgeschlossen, (effektiv), [fragwürdige Kommasetzung so im Originaltext] also oft vorzeitig, z. B.

ἀναγνοὺς τὴν ἐπιστολὴν ὁ Κῦρος συλλαμβάνει Ὀρόνταν – nachdem Kyros den Brief gelesen hatte ...“


Bornemann/Risch, „Griechische Grammatik“, 2. Aufl. 1978, S. 227:

„Doch bezeichnet verhältnismäßig oft […] b) das Partizip des Aorists gemäß seinem Aspekt des Vollzugs eine Handlung (oder einen Vorgang), die im Verhältnis zu der Handlung des übergeordneten Satzes als vorausgegangen erscheint:

Κῦρος συλλέξας στράτευμα (nachdem er ein Heer zusammengezogen hatte) ἐπολιόρκει Μίλητον. – Ὀροντας νομίσας (als er zu der Meinung gekommen war od. kam) ἑτοίμους εἶναι αὐτῷ τοὺς ἱππέας, γράφει ἐπιστολὴν πρὸς βασιλέα. […] – Πολλῶν λόγων γενομένων (nach vielen Reden) τέλος (zuletzt!) οὐδὲν ἐπράχθη.“


Juan Coderch, „Classical Greek: A New Grammar“, S. 279:

„1) The aorist participle is used frequently, especially to indicate an action that has taken place before the action mentioned by the main verb (so, the aorist participle has almost always a temporal meaning, rather than an aspectual meaning):“ […]

ἐν τῇ μάχῃ νικήσαντες, οἱ στρατιῶται πρὸς τὰς Ἀθήνας ἦλθον. – Having won in the battle, the soldiers went towards Athens.

Alternatively, the aorist participle can be translated as 'After winning...', or any other appropriate translation which conveys this temporal difference between the actions of the participle and the main verb; […]

3) In some cases, the aorist participle may refer to an action that took place simultaneously with the action of the main verb. For example:

ἀποκρινάμενος πάντα εἶπεν. […]

It is clear that the subject is answering at the same time as he is speaking, therefore an appropriate translation is 'Answering/In his answer, he said everything.' In this case, the use of the aorist tense rather than the present tense is idiomatic.“


„Langenscheidts Kurzgrammatik Altgriechisch“, 6. Aufl. 1991, S. 105:

„Das Partizip Aorist bezeichnet infolge seiner ingressiven und effektiven Aktionsart den Eintritt oder Abschluß einer Handlung und damit die Vorzeitigkeit zu der des übergeordneten Verbs.

Ἀχιλλεὺς ὠργίσθη ὑπ᾽ Ἀγαμέμνονος ἀδικηθείς. – Achill wurde zornig, als ihm von Agamemnon Unrecht geschah.“
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Re: Zeitliche Einstufung des Partizips Aorist im Griechische

Beitragvon Medicus domesticus » So 10. Nov 2013, 13:05

Danke für deine Mühe einer solchen Zusammenstellung, Glis! :-D
Du hast sogar Coderch´s Classical Greek: A New Grammar erwähnt... ;-)
Im Großen und Ganzen schildert Coderch die Verhältnisse sehr gut auf S.279. Meine Erfahrung ist, dass das Aorist Partizip sicher häufig (mehr als 80%) vorzeitig übersetzt werden kann und wird. Gerade aber bei direkt hintereinander ablaufenden Ereignissen, die zeitlich sehr nah stattfinden, übersetzt man im Deutschen eher gleichzeitig. Es ist auch immer eine Frage des Kontextes und aktuellen Textes, welche Übersetzung ins Deutsche geeignet ist.

Gruß, Medicus.

P.S: Juan Coderch hat jetzt auch eine neue lateinische Grammatik veröffentlicht:
http://coderch-greek-latin-grammar.weebly.com
http://tinyurl.com/q8nlmam
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Re: Zeitliche Einstufung des Partizips Aorist im Griechische

Beitragvon Glis » So 10. Nov 2013, 14:39

Hallo Medicus,
danke für deine Einschätzung.
Wie wir schon anhand von Lektion 127 diskutiert hatten, bedingen manche Sinnrichtungen, die vom Part. Aor. ausgedrückt werden können, bei entsprechendem Kontext ja implizit die Vorzeitigkeit der Partizip-Handlung - zum Beispiel die kausale oder die modale Sinnrichtung. Die Quintessenz scheint mir auch zu sein, dass man beim Übersetzen nicht schematisch vorgehen darf, sondern im Zweifel nochmals den Kontext durchdenken sollte.

Die Coderch-Grammatik hatte ich mir auf deinen Tipp an anderer Stelle hin gekauft. Ich finde sie, wie ich dort schon geschrieben habe, ganz hervorragend. Eindeutig die erlernerfreundlichste Grammatik, die mir bekannt ist.

Viele Grüße!
Gl.
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Re: Zeitliche Einstufung des Partizips Aorist im Griechische

Beitragvon Prudentius » So 10. Nov 2013, 18:12

Hallo Glis, deine Zusammenstellung ist sehr nützlich, es wird die Vielstimmigkeit :-D hörbar, mit der die Wissenschaft gewöhnlich spricht.

Was soll man dem Schüler empfehlen? Die Angaben der Grammatik sind allesamt sehr nützlich, aber wir lesen sie wie ein Menü, wir wählen aus, was wir gebrauchen können, und was uns nicht schmeckt, nehmen wir nicht.
Für die Übersetzung gr. PC-Konstruktionen gilt dasselbe wie für die lat. (konjunktionaler Nebensatz, Beiordnung, präpositionale Wendung).

Meine Erfahrung ist, dass das Aorist Partizip sicher häufig (mehr als 80%) vorzeitig übersetzt werden kann und wird.

So ist es, es empfiehlt sich, automatisch mit "nachdem" anzufangen, ist fast immer richtig; wenn es aber nicht passt, sehen wir weiter.

Noch ein paar Punkte sind mir eingefallen:
Ich würde nicht allgemein von "Kontext" sprechen, sondern lieber so sagen: wir untersuchen das Verhältnis, in dem der untergeordnete Satz zu dem übergeordneten steht; dieses Verhältnis ist oft kausal/temporaler Art, wenn nämlich eine Episode eines planvollen Handlungsablaufs beschrieben wird. Deshalb würde ich auch nicht sagen, dass wir bloß das Verhältnis der beiden Verben untersuchen.

1) Ἀνθρώποις καλὰ πράξασι Ζεὺς ἐπέτρεψε θεοῖς γίγνεσθαι. – Weil Menschen Gutes getan hatten, erlaubte ihnen Zeus, Götter zu werden.


Ich würde lieber konditional auflösen: "Wenn Menschen...", das ist allgemeiner.

Agamemnon opferte die Iphigenie unter Tränen / wobei er weinte.


Lieber ganz wörtlich: "Weinend opferte..."

ἀποκρινάμενος πάντα εἶπεν. […]
It is clear that the subject is answering at the same time as he is speaking,


Ich bin mir nicht sicher, ob er recht hat; "antworten" geschieht mit dem Mikrophon in der Hand, akustisch; "alles gesagt haben" ist aber ein Resümé, gedankliche Zusammenfassung; so dass wir zwei sehr unterschiedliche Vorgänge haben.

Ἀχιλλεὺς ὠργίσθη ὑπ᾽ Ἀγαμέμνονος ἀδικηθείς. – Achill wurde zornig, als ihm von Agamemnon Unrecht geschah.“


Lieber kausal: "...weil ihm ..."

Gruß P. :)
Prudentius
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Re: Zeitliche Einstufung des Partizips Aorist im Griechische

Beitragvon Roxane » Mo 11. Nov 2013, 12:19

Kaum zu glauben, was ihr alles zu Tage befördert habt! Ganz herzlichen Dank euch allen für die aufschlussreichen Beiträge, vor allem dir, Glis, für die Zusammenstellung und das mühsame Abtippen der zahlreichen Beispiele.

Hinzufügen möchte ich noch, dass nicht nur Coderch, Bornemann/Risch und die Hellasgrammatik die Möglichkeit einer gleichzeitigen Wiedergabe des Part. Aorist einräumen, sondern auch der alte Kühner.

§ 389 Anm. 8: <Gewöhnlich wird das Partizip des Aorists von einer vergangenen Handlung gebraucht, weil eine von der Haupthandlung sachlich verschiedene Nebenhandlung, die als momentan aufgefasst wird, in der Regel nicht als neben jener herlaufend (gleichzeitig), sondern als vor ihr abgeschlossen erscheint.

Dass aber das Partizip des Aorists entsprechend seiner zeitlosen Natur auch von momentan gleichzeitigen Handlungen gebraucht werden kann, beweisen viele der oben aufgeführten Beispiele. Insbesondere ist dies der Fall, wenn die Nebenhandlung nicht sachlich verschieden ist von der Haupthandlung, sondern nur eine Modifikation derselben darstellt.>

Zahlreiche Beispiele findet ihr hier:
http://perseus.uchicago.edu/cgi-bin/phi ... Monographs

§ 486.4: <Zur näheren Bestimmung des Zeitverhältnisses treten ferner häufig ....die Zeitadverbien αὐτίκα, εὐθύς, ἐξαίψνης, μεταξύ, ἃμα, ἄρτι.>

Beispiel: αὐτίκα γενόμενον = gleich nach seiner Geburt

Vgl. Lektion 127. Prudentius, du hast uns damals auf das Signalwort ἐξαίψνης hingewiesen.

Eine schöne Woche und hoffentlich bis bald!
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Re: Zeitliche Einstufung des Partizips Aorist im Griechische

Beitragvon Glis » Mo 11. Nov 2013, 18:54

Das habt ihr ja schön ergänzt - ich bin sehr angetan.
Besonders gut gefällt mir, Prudentius, dass du dich darangemacht, fast jeden der Beispielsätze aus den Grammatiken nachzubessern. Schöner Nachdenkstoff.
Ebenso deine Kühner-Stellen, Roxane.

Kühner bringt mich übrigens zu der Frage, welches wohl die älteste deutschsprachige Griechisch-Grammatik sein mag. Ich gehe mal davon aus, dass es bis in die frühe Neuzeit, wenn überhaupt, nur lateinische Grammatiken gegeben hat. Vielleicht ist man zum Fremdsprachenlernen auch ganz ohne ausgekommen und hat ganz auf die Macht des Mündlichen und bedingungsloses Auswendiglernen gebaut?
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Re: Zeitliche Einstufung des Partizips Aorist im Griechische

Beitragvon Prudentius » Mi 13. Nov 2013, 11:46

Welches die erste gr. Grammatik auf D. war, weiß ich auch nicht, aber vllt. ist es nützlich, sich ein paar markante Punkte aus der Geschichte des Gr.-Unterrichts, nicht nur in D., vor Augen zu halten.

Für uns entscheidend war die Neuorganisierung des Bildungswesens in Preußen am Anfang des 19. Jh., da hat im Rahmen der sogen. "Steinschen Reformen" Humboldt auch das Schulwesen neu organisiert, er schuf das berühmte "humanistische Gymnasium" mit L. und Gr. als Kernfächern, es war ja eine Zeit der Begeisterung für die Antike, außerdem die napoleonische Zeit, das alte "römische Reich" war ja aufgelöst worden (vorübergehend, bis zum "Wiener Kongress").

Weiter zurückblickend, war in der Renaissance wichtig das Ende des byzantinischen gr. Reiches, durch die Eroberung durch die Türken 1453, damit strömten gr. Gelehrte nach Venedig und brachten erst neu die Kenntnisse von gr. Sprache und Literatur nach Europa; zugleich war es die Zeit des aufkommenden Buchdrucks, damit gewann die Erhaltung und Verbreitung des Gr. ganz neue Möglichkeiten.

Noch weiter zurückblickend: durch Kaiser Konstantin wurde das Zentrum des Imperium Romanum in den gr. Osten verlegt, man kann sagen, L. wurde durch Gr. ersetzt, in Rom blieb der Sitz der Kirche, es kam zur Spaltung (Schisma) der beiden Reichshälften.

lgr. P. :)
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Re: Zeitliche Einstufung des Partizips Aorist im Griechische

Beitragvon Glis » Mi 13. Nov 2013, 21:08

Wirklich ein spannendes Thema.
Wenn dir dazu ein Text zur Vertiefung einfällt, Prudentius, freue ich mich jederzeit über einen Hinweis.

Gleiches gilt für die Frage nach der ältesten deutschsprachigen Griechisch-Grammatik. Ein kurzer Suchmaschinenausflug hat leider nichts ergeben.
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